Hanns Zischler
Der zerrissene Brief
Pauline ist gerade mal siebzehn, als sie auf dem Jahrmarkt in ihrem Heimatdorf den deutlich älteren Max kennenlernt und die beiden sich ineinander verlieben.
Aufbruch ins Ungewisse
Max entstammt einer wohlhabenden Familie von Pelzhändlern, was ihm ein bequemes und abenteuerliches Leben ermöglicht. Mit seinem Onkel reist er schon in jungen Jahren durch die Welt. Die junge Pauline lebt bei ihrem Onkel, seit ihre Eltern kurz hintereinander gestorben sind – da war sie fünf Jahre alt. Max könnte ihr Vater sein, er will sie heiraten, aber vorher schickt er sie, reichlich mit Geld versorgt, nach New York, in eine Art
"Erziehungsprogramm ... Natürlich in bester Absicht, wie das eben mit der Erziehung so geht. Und nicht ohne egoistischen Hintersinn ... Max suchte einen Reisegefährten."
Sein Fernweh traf auf das von Pauline, die diese Reise 1899 tatsächlich antritt – mutiger Aufbruch einer jungen Frau in eine ungewisse Zukunft und in ein neues Jahrhundert.
Reisen und Abenteuer
Das alles erfährt Jahrzehnte später die Tochter ihrer besten Freundin, da ist Pauline schon 84. Elsa ist zu Besuch gekommen, um ihren Liebeskummer zu vergessen. Die beiden kommen ins Gespräch, zunächst über Elsas Liebe, ihre Hoffnung und Enttäuschung. Aber nach und nach beginnt Pauline auch von sich zu erzählen, holt Gedanken und Erinnerungen aus dem Dunkel der Vergangenheit, beginnt sie zu sortieren:
"Pauline hatte für Augenblicke ihr Gegenüber vergessen, sie hielt eine Blüte in der Hand. Elsas Worte erreichten sie nicht. Sie grübelte, dann legte sie die Blüte zwischen die Seiten des Gedichtbandes."
Masken und ihr Geheimnis
Zwischen den beiden ungleichen und doch vertrauten Frauen entwickelt sich ein intensiver Dialog über eine Beziehung, die sich über Reisen und Abenteuer definierte. Pauline war fasziniert von Max, seinem Wissen, seinem "Raumhunger", seinen Kenntnissen der Welt, seiner Neugier, seinen Begabungen. Sie reisten quer durch Asien, durch Russland, Sibirien, Japan, China und nach Kanada. Max sammelte Masken indigener Völker, arbeitete mit dem Kinemathografen für die Gebrüder Lumière. Und Pauline wurde zur Chronistin ihrer Abenteuer, führte Reisetagebuch. Was er suchte, waren:
"Die Vielgestaltigkeit der Landschaften wie der Menschen und besonders das Geheimnis der Masken und Kostüme, die es bei diesen fernen Völkern noch zu entdecken gab. Das hat ihn umgetrieben und begeistert."
Pauline erzählt nicht chronologisch, ihre Erinnerungen kommen eher gedankenverloren – beim Blick in den Himmel, auf eine Blume oder einfach ins Leere. Dann beginnt sie, genauer zu suchen, findet Aufzeichnungen, Fotos, Zeitungsausrisse, kurze Notizen, eine Schallplatte, Gedichte. Und schließlich auch den zerrissenen Brief, den ihr Max nie gezeigt hat.
Feinsinnig und einfühlsam
Hanns Zischler ist gleichsam der aufmerksame und neugierige Zuhörer, er "belauscht" die beiden Frauen, folgt den Andeutungen und Gedankensprüngen von Pauline, den Fragen und Assoziationen von Elsa. Erinnerung funktioniert nicht chronologisch, sie will aufgedeckt und wiederentdeckt werden, langsam und vorsichtig. Und so schreibt Zischler auch – dabei elegant, feinsinnig und einfühlsam, detailgenau und kenntnisreich, manchmal ein wenig altmodisch, dem Sprachgestus folgend, der für die weißhaarige alte Dame Pauline mit ihren "unbunten" Kimonos und dem Duft von Mouson Lavendel auf dieser Reise in die Vergangenheit typisch gewesen sein mag - "Sie hatte eine weiche, geradezu beiseitesprechende Art zu reden. Ein diskreter Ton aus einer anderen Zeit."
(Christiane Schwalbe)
Hanns Zischler *1947 in Nürnberg, Schauspieler, Regisseur und Publizist, lebt in Berlin
Hanns Zischler "Der zerrissene Brief"
Roman, Galiani, Berlin 2020, 272 Seiten, 20 Euro
eBook 16,99 Euro
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