Hanns Zischler
Berlin ist zu groß für Berlin
Wer eine Stadt wirklich kennenlernen will, der tut dies bekanntlich am besten zu Fuß, vielleicht noch mit dem Fahrrad und im Falle Berlins gern auch mit der S-Bahn – so durchstreift der Schauspieler und Publizist Hanns Zischler nun schon seit 40 Jahren diese "Stadt auf grundlosem Boden", die einst auf Sand und Sumpf gebaut wurde. Hier ist er "hängengeblieben", erzählt er bei der Buchpräsentation im Cinema Paris, in dieser Stadt, "die mit dem Rücken zum Wasser gebaut ist".
Aufmerksamer Stadtspaziergänger
Seine Beobachtungen als aufmerksamer und kritischer Berliner Stadtspaziergänger versammelt er in einem mit Zeichnungen, Fotos, Grafiken und Stadtplänen schön illustrierten Buch, "das in dem Maße, wie es entstand, auch immer wieder verworfen wurde". Nun heißt es "Berlin ist zu groß für Berlin", weil diese Stadt immer schon hin- und hergerissen war "zwischen Ausdehnungshunger und Abrisslust". Das gilt bis heute. Hier fehlt, konstatiert Zischler, der politische Wille zur Gestaltung.
Kundige Begleiter
Er hat kundige Begleiter, deren Namen zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind: Den "Großstadtindianer" Oskar Huth, der in der Nazizeit Pässe fälscht und Menschen rettet, Freunde und Bekannte mit gefälschten Butter- und Brotmarken versorgt; die Dichterin Gertrud Kolmar, die "in der 'Judenstadt' lebt (im Bayerischen Viertel), durch den Judenstern öffentlich bloßgestellt "den Albtraum erlebt, "in der eigenen Stadt enteignet, aus dem angestammten Bezirk vertrieben und anderswo eingepfercht, in eine städtische 'Unlandschaft' versetzt zu werden". Sie wurde in Auschwitz ermordet. den Stadt- und Siedlungsgeographen Friedrich Leyden, deportiert nach Theresienstadt, dessen "Groß-Berlin – Geographie der Weltstadt" 1995 noch einmal aufgelegt wurde.
Blick auf Berlin
Zischler "unter-wandert" die Stadt, wenn er hoch oben vom Trümmerberg am Teufelssee auf Berlin 1965 blickt, unter sich "das gewesene Berlin: die Trümmer, der Abraum, der Schutt, die materielle Hinterlassenschaft des Luftkrieges, die Hälfte der zerstörten Stadt"; wenn er an Hitlers "Germania" erinnert, dessen Umsetzung Tabula Rasa für das historische Berlin bedeutet hätte; wenn er uns einlädt, mit dem Bus 104 vom Brixplatz in Charlottenburg/Westend nach Stralau in Friedrichshain zu fahren, wie 1837 Karl Marx: "… durch die ganze lange Stadt nach Stralow".
Stadtbegehung
In diesem Buch treffen sich Betrachtungen aus der Vergangenheit mit Geschichten aus der Gegenwart: Wenn der Autor zum Beispiel mit einem Straßenbegeher auf der Suche nach Schadstellen unterwegs ist, die besondere Liebe der Berliner zu ihren Straßenbäumen beschreibt und vom "animalen Vandalismus" lästiger Wildschweinpopulationen erzählt. Mit den "Straßenzusammenstößen", als die sich in Berlin sogenannte Plätze erweisen, die doch eigentlich dem beschaulichen Ausruhen dienen sollten statt der Fließgeschwindigkeit des Autoverkehrs, sind wir mittendrin im heutigen Berlin. Ein schönes Buch – lehrreich, amüsant, kritisch, provokant und liebevoll.
(Christiane Schwalbe)
Hanns Zischler - "Berlin ist zu groß für Berlin"
Verlag Galiani Berlin, 180 Seiten, Sonderformat, mit zahlreichen Fotos und Karten, Euro 24,99
Weitere Buchtipps zu Hanns Zischler
Der zerrissene Brief
Das Mädchen mit den Orangenpapieren