Abbas Khider
Palast der Miserablen
"Wohin soll ich? Zu meinen Eltern? Zu meiner Schwester? Zu gefährlich ... Das wäre Selbstmord. Zu meinen Freunden? Zu welchen? Ich habe sie alle verraten. ... Wer von Ihnen wäre bereit, mich zu verstecken? Keiner. Hundertprozentig keiner. Alle haben Angst vor diesem Land der unterirdischen Kerker."
Herzliche Hölle
So enden die ersten beiden Seiten des neuen Romans von Abbas Khider, mit einem autobiografischen Detail: Der Autor wurde wegen politischer Aktivitäten gegen Hussein in seiner Heimat Irak mehrfach verhaftet, saß zwei Jahre im Gefängnis, wurde gefoltert, bis ihm die Flucht gelang. In "Palast der Miserablen" erzählt er die Geschichte von Shams und seiner Familie, die im Dorf "Herzliche Hölle" leben, als der erste Golfkrieg tobt:
"Wir gewöhnten uns an den fernen Krieg, Nur einmal in jenen Jahren wurde die Gegend von einigen Raketen getroffen. Absurderweise wurden sie nicht von iranischen Angreifern abgefeuert, sondern von unseren eigenen Leuten."
Leben im Blechviertel
Nach dem Zweiten Golfkrieg wird das Leben deutlich mühseliger und als der Vater aus dem Krieg zurückkehrt und Aufstände das Land erschüttern, zieht die Familie nach Bagdad, denn: "Hier haben wir keine Zukunft mehr". Im wachsenden Slum des "Blechviertels" leben sie neben einem riesigen Müllberg im Zelt. Aber selbst im Slum kann man es zu etwas bringen, Geld mit Gelegenheitsarbeiten verdienen und sich Zimmer für Zimmer ein festes Haus bauen. Shams verkauft Nüsse, Plastiktüten, sammelt Müll, arbeitet als Busfahrergehilfe und Lastenträger. Die Mutter verdient in diesen schlechten Zeiten gutes Geld mit Wahrsagerei und Handlesen. Die Schwester heiratet und macht mit schmutzigen Geschäften ein Vermögen.
Leidenschaft für Bücher
Shams wird in unruhigen und gefährlichen Zeiten erwachsen – wirkliche Orientierung bekommt er von zuhause nicht. Aber er entdeckt seine Leidenschaft für Bücher und findet sie auf dem Büchermarkt:
"Ich schaute mir fast jede Publikation an, die dort feilgeboten wurde, und in meinem Kopf explodierte ein Feuerwerk. Ich fragte mich, wie man es nur schaffen sollte, all diese wunderbaren Bücher zu lesen."
Er findet den Weg zum "Palast der Miserablen". Hier trifft sich eine Gruppe von Intellektuellen und Hussein-Gegnern, die hitzige Debatten über Saddam und sein Regime führen:
"Glaubst du ernsthaft, dass sich irgendwer da draußen für unsere Probleme interessiert? ... Wir sind doch nur eine schnelle Schlagzeile."
Shams beginnt, "zwei sehr unterschiedliche Leben zu führen", denn ihm wird bewusst, in welch zerrissenem Land er lebt. Als er schließlich verbotene Bücher verkauft, wird er verhaftet. Und das ist die zweite, parallele Geschichte, die Khider gleichsam dazwischen schiebt: Drastisch und schonungslos erzählt er von einem Gefangenen im Kerker, krank, halb verhungert, in Einzelhaft und nicht wissend, ob er jemals wieder freikommt.
Ausnahmezustand
Abbas Khider gelingt es, das bedrückende Porträt eines verlorenen Landes und seiner Menschen zu zeichnen: die Diktatur im Irak und die Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie, das brutale Regime Saddam Husseins, Freiheitskämpfer, die zu Tausenden verschwinden, Wächter der Revolution, die Widerstand im Keim ersticken, die Not der Menschen, aber auch ihre Kraft, sich das Überleben im Ausnahmezustand zu erkämpfen.
"Es waren Massen von Menschen unterwegs, die nach Arbeit und Nahrung suchten, auch kleine Kinder. Unzählige schliefen auf den Bürgersteigen. Sogar hinter dem Damm, in der Nähe des Kanals und des Friedhofes der Namenlosen, wo es nichts als staubtrockenen Wüstenboden gab, schlugen einige Familien ihre Zelte auf."
Gewalt und Repression steht Shams Leidenschaft für die Literatur gegenüber, seine Fähigkeit, zu staunen, zu lernen und Fragen zu stellen.
Distanz finden
An seinem neuen Roman, sagt Abbas Khider in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, habe er viele Jahre gearbeitet, hatte acht Fassungen und brauchte dann eine Pause, um Distanz zu seinem Text zu bekommen und ihn zuende schreiben zu können. Es ist ein sehr persönlicher Roman geworden, der trotz aller Dramatik auch heiter und humorvoll erzählt ist.
(Christiane Schwalbe)
Abbas Khider, *1973 in Bagdad/Irak, nach seiner Flucht seit 2000 Asyl in Deutschland, lebt als irakischer Schriftsteller mit deutscher Staatsangehörigkeit in Berlin
Abbas Khider "Palast der Miserablen"
Roman, Carl Hanser Verlag 2020, 318 Seiten, 23 Euro
eBook 16,99 Euro, Audio-CD 11,49 Euro
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"Deutsch für alle - das endgültige Lehrbuch"
"Ohrfeige"