Abbas Khider
Ohrfeige
"Alles, was ich erreicht habe, ist ein gigantisches Nichts. Der Einzige, der sich freut, ist mein Schlepper Abu Salwan" - das ist die Bilanz, die Karim Mensy nach drei Jahren und vier Monaten Leben zieht. Für eine Fahrt nach Paris hatte er bezahlt, doch er landete in fünf wechselnden Flüchtlingsunterkünften in der bayrischen Provinz.
Endlich zuhören
Der junge Iraker wendet sich in einem langen Monolog an Frau Schulz, die Beamtin, die ihm das Bleiberecht nach Ende des Irakkriegs verweigert, doch dass sie ihm nun endlich zuhören muss, festgezurrt und mit verschlossenem Mund, entpuppt sich als eine bekiffte Imagination – für ihn allerdings Beichte und Abrechnung zugleich:
"Was bedeutet es für mich, dass ich weder in der Heimat noch in der Fremde leben darf? Frau Schulz? Derart verbittert war ich früher nicht. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben mich jedoch verändert."
Kampf ums Überleben
Abbas Khider, der vor 20 Jahren als politischer Flüchtling aus dem Irak nach Deutschland kam und in drei Romanen den Hintergrund von Flucht und Überlebenskampf kunstvoll und mit literarischem Einfallsreichtum ausleuchtete, will in seinem neuen Roman sehr direkt die Stimme eines einzelnen jungen Mannes zur Sprache bringen, eines der vielen, die Tag für Tag ihr Leben riskieren, um ihre Zukunft zu finden. Sich darauf zu beschränken, bietet dem Roman die Chance der Genauigkeit, bringt aber zugleich auch ein Problem mit sich.
Tragische Erfahrungen
Karims Chancen sind von Anfang an begrenzt, denn sein Fluchtgrund ist außergewöhnlich: Er möchte die weiblichen Brüste, die ihm wuchsen, loswerden. Und studieren, ein achtbares Leben führen. Wie sich all seine Ziele und auch sein individuelles Schicksal verzerren und entwertet werden, bis nichts als Hoffnungslosigkeit und die Flucht in ein anderes Land bleibt, ist nachvollziehbar und lakonisch beschrieben.
"Meine echte Vergangenheit erschien mir mit einem Mal albern und nichtig. Ich fühlte mich schlecht. Dabei hatte ich eigentlich immer gedacht, meine Biografie sei einigermaßen aufregend. Wie alle Iraker hatte ich so viele tragische Dinge erfahren müssen, dass sie für mehrere Leben gereicht hätten. Doch vor dem deutschen Gesetz wurden sie schlagartig unwichtig, weil sie nicht ins Raster passten oder ich keine Beweise erbringen konnte."
Aussichtslose Begegnungen
Karim beschreibt, wie es in den Unterkünften zugeht, welches Unverständnis den Flüchtlingen auf den Ämtern entgegenschlägt und sie zur Lüge zwingt, wie aussichtslos und oft ausbeuterisch die Begegnungen mit den Deutschen sind. Im Laufe der drei Jahre und vier Monate erodiert auch sein Wunsch dazuzugehören, und sein Enthusiasmus erlischt: Wozu deutsch lernen, wenn ohnehin nur die elendsten Jobs angeboten werden, wozu die Wahrheit sagen, wenn sie niemanden interessiert?
"Wir sind komplett ausgeliefert. Um zu überleben, brauchen wir die Vermittler, die Mafiosi, die Geldgeilen, die Schmuggler, die bestechlichen Polizisten und Beamten, wir benötigen all die Blutegel, die von unserer Situation profitieren wollen. Wir brauchen sie viel mehr als alle Mitarbeiter von Amnesty International zusammen."
Unsägliche Langeweile
Das geradezu kafkaeske Warten auf irgendeinen Ausweg aus der unsäglichen Langeweile endloser Tage führt dazu, dass die Fähigkeiten der jungen Männer verfallen. Prostitution, Verzweiflung und Wahnvorstellungen sind nur einige der Fallen, in die sie geraten können. Abbas Khider, dessen Roman mit dem Ende des Golfkriegs endet, deutet die Verführungskraft gewalttätiger Ideologien nur an – doch ihre Sprengkraft wird gerade durch seinen lapidaren Bericht hindurch spürbar.
"Eigentlich ist es uns inzwischen völlig gleichgültig, wer uns hilft. Ob die Saudis oder die Amis, das spielt keine Rolle mehr. Die meisten wollen nur noch gerettet werden. Und das ist gefährlich."
Wichtige Botschaften
Damit wird das Problem der Perspektive deutlich, die Khider gewählt hat: Die Rede an die zum Schweigen gebrachte Frau Schulz hält sein Protagonist in seiner Phantasie auf arabisch, doch der deutsche Text erscheint als sprachlich ärmlich, ein Bericht mit vielen wichtigen Botschaften zwar, aber von Abbas Khiders großer poetischer Begabung ist allzu wenig zu spüren. Die schweigende Frau Schulz taugt als Widerpart und Resonanzkörper wenig. Die Konstruktionen seiner früheren Romane boten mehr Raum, die reiche arabische Erzähltradition für seine Geschichten fruchtbar zu machen. Und so ist dieser Roman zwar ein wichtiger Beitrag zur politischen Debatte in Deutschland und straft alle Willkommenseuphorie Lügen, doch für das literarische Vergnügen fehlt ihm, anders als seinen drei Vorgängern, die sprachliche Musikalität und die Freude am Komponieren.
(Lore Kleinert)
Abbas Khider *1973 in Bagdad/Irak, nach seiner Flucht seit 2000 Asyl in Deutschland, lebt als irakischer Schriftsteller mit deutscher Staatsangehörigkeit in Berlin
Abbas Khider "Ohrfeige"
Roman, Hanser 2016, 224 Seiten, 19,90 Euro
eBook 15,99 Euro
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