Michael Köhlmeier
Das Mädchen mit dem Fingerhut
Ein kleines Mädchen geht auf den Markt, irgendwo in einer Stadt in Westeuropa. Der Onkel hat sie losgeschickt, um sich Essen zu erbetteln. Sie spricht kein Wort und versteht kaum ein Wort, wohl aber dies: "Sie muss sehen, dass sie über den Winter kommt."
Zugelaufen
Beim Wort Polizei, so hatte ihr der Onkel eingeschärft, sollte sie schreien:
"Er ließ sie das Wort oft und oft wiederholen. Er sprach es ihr vor. Er sagte es wie nebenbei. Er sagte es überdeutlich. Er sprach es verwischt aus. Bis sie verstanden hatte."
Dann ist der Onkel plötzlich spurlos verschwunden, lässt das Mädchen allein und hilflos zurück. Einmal noch findet sie auf dem Markt den Mann, der sich freundlich um sie kümmerte:
"Sie ist mir zugelaufen, sagte Bogdan. … Sie redet nicht, sagte Bogdan. Sie wird gleich abgeholt. Sicher wird sie gleich abgeholt. Was heißt zugelaufen?, fragte der Mann. Ich denke, jemand hat sie bei mir untergestellt, sagte Bogdan. … Weil es draußen kalt ist und sie im Weg ist, was weiß ich."
Heimatlos
Ein im Großstadtdschungel verlorenes Flüchtlingskind, denkt man sofort, heimatlos, verlassen, frierend. Es hat Hunger und Durst, verirrt sich in den unbekannten Straßen, findet den Onkel nicht wieder, auch Bogdan nicht. In einem Müllcontainer sucht das Mädchen Schutz:
"Viel Weiches war hier. Zeitungen und anderes. Sie legte sich darauf, krümmte sich in den Mantel. Es war wärmer hier als draußen." Sie findet etwas Essbares und schläft ein.
Eine Odyssee beginnt, sie landet im Heim, haut mit zwei Jungen ab, denen ihre anrührende Hilflosigkeit vielleicht nützen könnte, wird krank und von den beiden so gut wie möglich versorgt und beschützt, gerät in die Hände einer kinderlosen Frau, die sie gesund pflegt und wie ihren Besitz behandelt. Die Kinder irren umher, ohne Ziel und Hoffnung, froh, wenn sie etwas Essbares gefunden, geklaut oder erbettelt, und einen halbwegs warmen Unterschlupf gefunden haben.
Märchenhaft
Das Geschehen erinnert an Hans-Christian Andersens "Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern" und ist ebenso märchenhaft und traurig interpretierbar wie als bittere Realität unserer Tage. Denn wir können uns kaum noch vorstellen, dass einem kleinen Mädchen in dieser wohlhabenden Gesellschaft ein solches Schicksal widerfährt.
Eine anrührende und bedrückende Parabel über Sprachlosigkeit und Einsamkeit in der Fremde, über Mitgefühl und Verantwortung, sparsam erzählt und deshalb besonders eindringlich, fast kühl anmutend und doch voller Empathie.
(Christiane Schwalbe)
Michael Köhlmeier *1949 in Hard/Bodensee, österreichischer Schriftsteller, lebt in Vorarlberg und Wien
Michael Köhlmeier "Das Mädchen mit dem Fingerhut"
Roman. Hanser, München 2016, 140 Seiten, 18,90 Euro
eBook 14,99 Euro