Christoph Ransmayr
Egal, wohin, Baby
„Aber was für ein triumphaler, nicht nur in der Welt des Verbrechens, der großen und kleinen Fluchten, standesamtlicher Rituale und des Betrugs gepflegter, revolutionärer Akt, diesen verliehenen Namen abzustreifen, sich selbst noch einmal und neu zu taufen! Und sich so in eine Gestalt des eigenen Willens zu verwandeln: Ich nicht als ich.“
Krone aus Nebel
Als Lorcan also bringt der Schriftsteller Ransmayr sein weitschweifendes Leben zur Sprache, befreit sich vom „Gewicht seiner Erinnerungen“, indem er sie leicht wie ein Jongleur und ebenso virtuos zum Tanzen bringt. Am Nordpol beginnt die Reise: Lorcan beobachtet an Bord eines russischen Eisbrechers die unter Gletschern begrabenen Inseln, sieht, wie thermische Aufwinde einem Tafelberg eine Krone aus Nebel aufsetzen, die schließlich im Nachthimmel entschwindet – die erste der siebzig Momentaufnahmen, die sich mühelos zu einem Reigen aus Poesie und Kenntnis zusammenfügen.
Seine Kamera begleitet ihn und hält Eindrücke fest, die auf ihre eigene Weise von den Orten erzählen: der Nebelhut, eine Steinkoralle am brasilianischen Strand, deren Form an ein menschliches Gehirn erinnert, ein glitzerndes, halbleeres Glas Mineralwasser im Eisenbahnzug, das Spiegelbild des Himmels auf dem Wasser des oberösterreichischen Offensees, eingerahmt vom Höllengebirge. Auch Tiere und Menschen sieht man: den Dichter selbst auf der Osterinsel, oder einen Maschinisten des russischen Eisbrechers, dessen ausgestreckte Hand zum Nest für eine Taube wird, angelockt durch seinen Schrei.
Blick in die Geschichte
Neben der Koralle verlor der Dichter seinen Schlüssel, und als er ihn dort wiederfindet, denkt er über die tausend Jahre nach, die es für den Aufbau eines Riffs braucht, und über die unzähligen Erfahrungen, Namen und Wege, die ein solches Riesengehirn vergessen und verlieren könnte. Das halbleere Glas im Zug von Hamburg nach Berlin inspiriert eine junge Bibliothekarin, Lorcan die Geschichte ihrer Großmutter zu erzählen: Nachdem der Generalmajor, ihr Ehemann, verstarb, blühte sie auf und entwendete ihren Mitbewohnern im Altersheim nachts ihre Gebisse aus den Wassergläsern – in der besten Absicht, sie von Schmerzen zu befreien. Zufallsbegegnungen, die in Geschichten münden, Wahrnehmungen, aus denen sich ein Blick in die Geschichte ergeben kann:
Ransmayr entdeckt auf seinen Reisen die Spuren von Menschheitsverbrechen und ebenso Spuren des menschlichen Widerstands gegen die Diktatur. Zwischen den Zähnen des Höllengebirges und der Mauer des Eibenbergs wurden während des Kriegs im Konzentrationslager fast neuntausend Menschen ermordet, die die Stollen für die Produktion von Massenvernichtungswaffen in die Berge treiben mussten. Als alle verbliebenen Zeugen am Kriegsende im verminten Stollen begraben werden sollten, erhoben sie sich zur einzigen kollektiven Befehlsverweigerung in einem Todeslager - und überlebten.
Bilder der Schönheit
Ransmayr versäumt nicht zu erwähnen, dass der Lagerkommandant wiederholt begnadigt wurde und friedlich im Bett starb. Die Berge, die Wasserfälle, immer wieder verweisen sie auf Ransmayrs Kindheit in Oberösterreich:
„Lorcan sollte nach dem Traunfall seiner Kindheit noch staunend vor weitaus größeren Wasserfällen stehen – den Victoriafällen, den Niagarafällen, Iguazúfällen,…vor dem japanischen Shomyo-Fall oder vor dem höchsten von allen, dem Salto Ágel in Venezuela, dessen himmelhoher Wassermantel beinahe tausend Meter in eine dunkle Tiefe fiel – aber durch jedes dieser Wasserwunder hatte er den Traunfall wie ein Wasserzeichen schimmern sehen.“
Seine „Spielformen des Erzählens“, die sich u.a. der Festrede, dem Verhör, Bildergeschichten, Balladen, Tiraden und Gedichten widmen, finden in Ransmayrs Mikroromanen eine wunderbare Ergänzung. Inspiriert von Bildern der Schönheit der Welt und des untrennbar mit ihr verbundenen Schreckens lädt dieser Band zu kleinen Expeditionen in die Wirklichkeit ein, getragen von grenzenloser Phantasie. Seinen Titel „Egal wohin Baby“ entdeckte er als gesprayten Spruch an einer Wand des Ingolstädter Bahnhofs.
„Das musste, das konnte nur eine Liebeserklärung sein. Einen Menschen egal wohin begleiten zu wollen, an einen tropischen Küstenstrich ebenso wie in den Staub industrieller Kohlehalden, in die Eisregion oder auf ein Schlachtfeld bis in den Tod, war mehr als jeder andere Schwur versprechen konnte.“ (Lore Kleinert)
Christoph Ransmayr, *1954 in Wels/Oberösterreich, Schriftsteller mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, lebt in Wien
Christoph Ransmayr „Egal, wohin, Baby“
Mikroromane, S. Fischer Verlag 2024, 256 Seiten, 28 Euro
eBook 22,99 Euro