Daniela Dröscher
Lügen über meine Mutter
Shortlist Deutscher Buchpreis 2022
Ein Mann aus bäuerlichen Verhältnissen, der aufsteigen will, eine Frau, die deshalb „vorzeigbar" schlank sein muss, und eine Tochter, die den Kampf ihrer Mutter gegen das Dicksein hautnah miterlebt. Ein lebenslanges Drama, eine lebenslange Unterordnung.
Schlafender Vulkan
„Ich könnte eine lange Liste mit dramtischen Gesten meiner Mutter anfertigen. Wie sie das Küchenhandtuch durch die Küche schleudert. Oder einen Topf auf den Tisch knallt. Wie sie Löffel und Schürze von sich wirft und mitten im Kochen alles stehen und liegen läßt. ... Den Besen mitten im Fegen in die Ecke pfeffert ...Ich bin, könnte man sagen, mit einem schlafenden, aber aktiven Vulkan im Rücken aufgewachsen.
So kommentiert es Ela als Erwachsene, Tochter und Autorin. Die Mutter ist zu dick, befindet ihr despotischer Vater, zwingt sie immer wieder zu Diäten, schafft sogar eine neue Waage an, auf der sie täglich und unter seinen Augen ihr Gewicht kontrollieren muss. Was für eine Demütigung. Als seine Frau ihre Qualifikation als Fremdsprachensekretärin durch einen Französisch-Kurs erweitern will, stößt das auf seinen Widerstand, weil es nicht in sein traditionelles Frauenbild passt. Karriere macht nur der Mann in der Familie, die Frau hält ihm „den Rücken frei". Aber der soziale Aufstieg gelingt nicht, auch nicht der Versuch, sich selbstständig zu machen. Als ein zweites Kind kommt, ist es mit den beruflichen Träumen und finanzieller Unabhängigkeit der Mutter vorbei.
Mehr Selbstbewußtsein
Mit den Weight Watchers beginnt sie „eine Art Gruppentherapie” - Abnehmen ohne Stress, kein Hungergefühl mehr und bestätigende Gespräche mit Menschen, die auch zu dick sind.
„Meine Mutter gab nicht viel preis von dem, was genau bei diesen Zusammenkünften geschah. Angeblich wurde das den Teilnehmenden auch geraten, den Ehepartner außen vor zu lassen. ... Doch so skeptisch mein Vater auch sein mochte: Es funktionierte ... Mit dem Schlankerwerden schien auch eine Veränderung ihres Wesens einher zu gehen. Sie wirkte selbstbewusster und bot meinem Vater deutlich mehr Paroli.”
Es sind die üblichen Kriterien patriarchaler Herrschaft, denen sich die Mutter letztendlich unterwirft, selbst dann noch, als ihre Eltern ihr ein stattliches Vermögen hinterlassen. Mit ihrem Geld kann ihr Mann endlich all' die ersehnten Statussymbole realisieren – Aktien, schickes Auto, neues Haus mit drei Badezimmern. Als hätte er eine Belohnung verdient für all seine Misserfolge im Leben, für die er stets seine dicke Ehefrau verantwortlich macht. Die übrigens mit bemerkenswerter Kraft und Energie die Schikane des Ehemannes erträgt.
Von innen und außen
Es ist ein schonungsloser Roman, sehr einfach und schlicht erzählt. Familienleben bedeutet für die kindliche Beobachterin Ela: Verhöhnung und Demütigung der Mutter, Verachtung, Nötigung, ständiger Streit und subtile Unterdrückung. Das alles geschieht in spießiger, dörflicher Atmosphäre, die sprichwörtliche böse Schwiegermutter lebt eine Etage tiefer im gleichen Haus. Daniela Dröscher erzählt aus zwei Perspektiven – aus der des Kindes, das vieles nicht versteht und die Mutter zunehmend mit den Augen des Vaters sieht. Und aus der Perspektive der Erwachsenen: Nach Gesprächen mit der Mutter kommentiert sie Kapitel für Kapitel die Szenen und Ereignisse, ordnet sie nach soziologischen und psychologischen Kriterien - als müsse sie dieser miterlebten Hölle auf Erden etwas entgegensetzen, vielleicht, um die Lektüre erträglicher zu machen und Distanz zu schaffen, auch zu sich selbst:
"Erst mit den Jahren verstand ich, dass gar nicht ich es war, die sich schämte. Es war eine Scham zweiter Ordnung. Ich sah meine Mutter mit den Augen meines Vaters."
(Christiane Schwalbe)
Daniela Dröscher, *1977 in München, aufgewachsen in Rheinland-Pfalz, Medienwissenschaftlerin, mehrfach ausgezeichnete Autorin von Prosa, Essays und Theatertexten, lebt in Berlin.
Daniela Dröscher "Lügen über meine Mutter"
Roman, Kiepenheuer & Witsch 2022, 448 Seiten, 24 Euro
eBook 19,99 Euro, AudioCD 25 Euro