Laura Cwiertnia
Auf der Straße heißen wir anders
„Damals dachte ich manchmal, ich hätte zwei Väter. Einen leichten und einen schweren. Der leichte warf mich in die Luft, machte Scherze und lachte selbst am lautesten darüber. Der schwere kam selten zum Vorschein, dann aber ohne Vorwarnung, so dass ich jedes Mal zusammenzuckte.“
Familiengeschichte
Sagt Karla über ihren Vater, dessen wechselnde Stimmungen sie als Kind erlebt und erlitten hat. Sie wächst in Bremen Nord als Tochter eines Armeniers und einer Deutschen auf. Ihr schwermütiger Vater will nicht über die Vergangenheit und seine Vorfahren sprechen - eine Familiengeschichte, die sich über vier Generationen erstreckt und mit all ihren Tabus und Geheimnissen nur langsam sichtbar wird. Nach und nach werden Personen und ihre Lebensgeschichten vorgestellt, u.a. auch die armenische Großmutter, die im Rahmen des Anwerbeabkommens in den 1950er Jahren nach Deutschland kam – wie viele andere, die zu den verfolgten Minderheiten in der Türkei gehörten. Als sie, die nie in die Kirche gegangen ist, stirbt, hinterlässt sie eine genaue Planung für ihr Begräbnis: Armenische Musik, Gebete und am Grab soll gegessen und getanzt werden.
Rätselhaftes Erbe
Großes Erstaunen, als das Erbe verteilt wird: Die Tante erbt die Wärmflasche, Karla bekommt Ohrringe und dann taucht da noch ein geheimnisvoller Zettel auf - „Lilit Kuyumcyan, Yerevan“ steht drauf und ein fein ziselierter, goldener Armreif liegt dabei.
Karlas Vater, der Armenier aus Istanbul, lässt sich schließlich zu einer Reise in seine unbekannte Heimat überreden, und Karla ist entschlossen, das Geheimnis des Armreifs zu lüften.
„Es ist, als hätte seit der Beerdigung meiner Großmutter etwas in ihm angefangen zu bröckeln. Ausgerechnet dort, wo der Fels besonders unzugänglich war…“
Der Vater hat bisher über seine Familie geschwiegen, aber jetzt erzählt er seiner Tochter völlig unvermittelt, dass der Name der Urgroßmutter Armine Kuyumcyan war. Was hat sie mit Lilit zu tun und warum haben weder die Großmutter noch der Vater jemals von ihr gesprochen?
Aber in Yerevan angekommen, weicht der Vater der Konfrontation mit der Vergangenheit erneut aus, will auch das Genozid-Mahnmal nicht besuchen.
„Es gibt ja dieses Denkmal… Der Saft schwappt über den Rand, als mein Vater sein Glas auf dem Tisch abstellte. Ich tat als hätte ich es nicht bemerkt… Bevor ich weitersprechen konnte, unterbrach mich mein Vater… Er sprach leise, und in seinen Augen lag ein Ausdruck, den ich nicht kannte. Nicht abweisend, sondern bittend, ja, beinahe flehend. Danach fragte ich nicht mehr.“
Auch die Suche nach Lilit will er zuerst nicht unterstützen, gibt aber schließlich – wenn auch unwillig - den Widerstand auf.
Ein gelungenes Debüt
In ihrem Debütroman erzählt die Journalistin Laura Cwiertnia die Geschichte ihrer deutsch-armenischen Familie. Sie geht dabei bis ins Jahr 1915 zurück, also bis zum Genozid an den Armeniern. Die nächste Generation erlebte das Pogrom von 1955, als türkische Juden, Griechen und Armenier in Istanbul um ihr Leben fürchten mussten. In Deutschland arbeitete die Großmutter der Ich-Erzählerin als Gastarbeiterin und wurde hier erneut, diesmal sozial an den Rand der Gesellschaft gedrängt – in Bremen Nord, einem Stadtteil der sozialen Brennpunkte, in dem viele Menschen auf eine lange Migrationsgeschichte zurückblicken.
Ein wenig Vorwissen über die historischen Zusammenhänge hilft beim Verständnis des Romans, der ebenso Anlass sein kann, sich mit dem Völkermord an den Armeniern ausführlich auseinanderzusetzen. Cwiertna erzählt auch davon, wie es ist, in Angst zu leben, sich zu verstecken, sich auf der Straße mit anderen Namen zu rufen - und wie die junge Generation sich dieser Vergangenheit langsam annähert und sich davon nicht mehr bestimmen lassen will.
Cwiertnia ist ein beeindruckendes Debüt gelungen, das ein politisch relevantes Thema auf spannende und leicht zu lesende Weise erzählt.
(Iris Knappe)
Laura Cwiertnia, *1987 in Bremen, Tochter eines armenischen Vaters und einer deutschen Mutter, stellvertretende Ressortleiterin bei der ZEIT; dieser Roman ist ihr literarisches Debüt.
Laura Cwiertnia „Auf der Straße heißen wir anders“
Roman, Klett-Cotta Verlag 2022, 238 Seiten, 22 Euro
eBook 17,99 Euro