Karen Duve
Sisi
Sie galt als schönste Frau Europas, war eine außergewöhnlich gute Reiterin, die in halsbrecherischem Tempo Jagden ritt, als wolle sie ihre Freiheit unter Beweis stellen. Das Gegenteil also der bezaubernden Kaiserin aus den gefühlsseligen „Sissi”-Filmen der 1950er Jahre mit Romy Schneider.
Eiserne Disziplin
Duves Sisi ist Ende dreißig (nach herkömmlichem Verständnis war man damals mit 40 Jahren alt) und deutlich emanzipierter, meint: Sie macht, was sie will. Sie ist immer noch eine bemerkenswert schöne Frau, die ihre schlanke Figur mit eiserner Disziplin durch Diäten, Gymnastik, kilometerlange Spaziergänge, wilde Ausritte und ein Essverhalten zu bewahren weiß, das man heutzutage als Esstörung bezeichnen würde. Zu den täglichen Schönheitsritualen Ihrer Majestät gehört das Frisieren der üppigen Haarpracht, die in kunstvolle Zöpfe geflochten, zu einer Krone aufgetürmt wie ein Polster über dem Rücken liegt. Wenn sie zuviele ihrer anderthalb Meter langen „heiligen Haare” beim Kämmen verliert - sie werden eingesammelt und gezählt - kennt sie keine Gnade, dann „setzt es Ohrfeigen. Elisabeth ist es von Kindheit an gewöhnt, mit dem Hauspersonal rüde umzugehen”. Sisi kann garstig sein, da ist Demut angesagt und Unterwürfigkeit.
Stets im Mittelpunkt
Am liebsten ist sie unterwegs, weit weg von Wien, den offiziellen Pflichten, Empfängen und Protokollen und vom vielbeschäftigen Gatten Kaiser Franz-Josef, der sich daheim im Park gern mal mit einer jungen Frau auf den einen oder anderen Kuss trifft, einen Umschlag voller Geld in der Tasche. Und auch Sisi wird die eine oder andere amouröse Geschichte angedichtet. Im ungarischen Schloss Gödöllö ist sie am liebsten, hier kann sie ganz ohne die strengen kaiserlichen Konventionen leben, stets im Mittelpunkt ihrer illustren Gäste aus dem Hochadel, die sie unablässig um sich schart.
Marie Louise, ihre junge Nichte, ist eine Ausnahme, die „einfache, unstandesgemäße Verwandte aus Bayern”, Tochter von Sisis Bruder Herzog Ludwig, der eine Schauspielerin geheiratet hat. Sie ist eine exquisite Reiterin, die ihre kaiserliche Tante überaus bewundert und sich liebend gern unter ihre Fittiche nehmen läßt – bis die einen eher abstoßenden Ehemann für sie aussucht und damit das schillernde Leben jäh beendet. Was sie der einen vorschreibt, verbietet sie explizit der anderen – ihrer ungarischen Hofdame.
Perfekte Selbstinszenierung
Sisis Hauptbeschäftigung ist die Teilnahme an Jagden, besonders gern in England, auf denen sie sich perfekt zu inszenieren weiß und dabei ungerührt Königin Victoria brüskiert, weil sie bei einem Abstecher nach London nicht zum Lunch bleibt:
„Elisabeths Silhouette ähnelt einem kalligrafischen Strich in der Landschaft, während Victoria in all ihrem Fleisch und dem weiten Rock, der ihre Gummizugschuhe vollständig bedeckt, wie ein Tintenfass mit Rädern unten dran über den Schnee gleitet. ... Victoria findet das Betragen einer Kaiserin, England ausschließlich wegen des sportlichen Vergnügens aufzusuchen, ausgesprochen unpassend, was sie natürlich nicht ausspricht ...”
Die Majestäten können sich nicht leiden. Auch das ist eines der vielen Details, die Karen Duve akribisch für diesen Roman recherchiert hat. Egal, ob kaiserliche Familie, bayerisches Königshaus, Erzherzöge, Grafen oder Hofdamen im Umfeld der Kaiserin – Duve findet genaue szenische Darstellungen, bissige Dialoge, schwärmerische Beschreibungen und süffisante Kommentare über die höfische Gesellschaft dieser Zeit. Und immer wieder im Mittelpunkt: Jagden jeder Art, Pferde, Hunde, Pferde.
Dokumentarisch und unterhaltsam
Im Nachwort schreibt die Autorin über die unzähligen Bücher, Zeitungsartikel, Briefe und Lebenserinnerungen, in denen Elisabeth erwähnt wird:
„Wo die Hofdame schönt und schweigt, nehmen andere kein Blatt vor den Mund oder phantasieren wild drauflos ... Der Ton dieser Aufzeichnungen reicht von devoter Dankbarkeit bis zu hämischer Aversion. Nur kalt gelassen hat sie offenbar niemanden. Ich möchte ... den Chor der bereits vorhandenen Stimmen in seiner ganzen Bandbreite zu Wort kommen lassen. Darum habe ich Zitate in dieses Buch eingearbeitet ... Sehr viele Ztitate. Wörter. Sätze, halbe Zeitungsartikel ...”
So ist ein authentisches, dokumentarisches und unterhaltsames Kaleidoskop einer starken Frau entstanden, die selbstbewußt und rücksichtslos ihre Interessen durchzusetzen und auszuleben verstand. Duve schreibt lakonisch im Ton, oft ironisch und stets ausgeschmückt mit detaillierten Schilderungen von Prunk und Pomp und höfischer Verschwendung – egal ob es um Stallungen, Pferde, Reitkostüme, Diamantenbroschen oder Pariser Mode geht, um kaiserlichen Hofstaat, Schlösser, festliche Tafeln, Kutschen oder Salonwagen - und immer wieder:
„Auch die Jagd ist rundum gelungen: Es geht über einen Patchwork aus Feldern mit vielen Ulmen, zwei lange Runs sind dabei, drei tote Füchse, und Graf Wolkenstein stürzt mit seinem Schimmel in einen sumpfigen Bach – was will man mehr?"
(Christiane Schwalbe)
Karen Duve, *1961 in Hamburg, deutsche Autorin, lebt in der Märkischen Schweiz/Brandenburg
Karen Duve "Sisi"
Galiani Berlin 2022, 416 Seiten, 26 Euro
eBook 19,99 Euro
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