Milena Michiko Flašar
Oben Erde, unten Himmel
„Die ideale Beziehung – egal zu wem – bestand meiner Meinung nach darin, nicht zu viel voneinander zu erwarten.“ Die junge Frau, die ihre Geschichte erzählt, ist gern allein.
Gegen die Einsamkeit
Sie vermisst nichts, hat keine Freundschaften, lediglich sporadische, eher unangenehme Sexkontakte, ihr Studium schmiss sie nach einem Semester hin. Ein erster Riss in ihrem reduzierten, selbstgenügsamen Leben wird erkennbar, wenn sie sich um ihren Hamster Punsuke kümmert:
„Ich gestand es mir nicht ein, aber ein Teil von mir hatte die ständige Einsamkeit zuletzt nur noch schwer ertragen.“
Doch sogar der Hamster wendet sich ab und verkriecht sich, und der Geschäftsführer der Fast-Food-Küche, wo sie als Aushilfskellnerin arbeitet, entlässt Suzu schließlich, ihr fehle jegliches soziales Gespür. Seinem Hinweis, sie solle sich einen Job suchen, in dem sie möglichst wenig mit Menschen zu tun habe, will sie schließlich resigniert folgen, der Einsamkeit und Verwahrlosung entgehen.
„Was war bloß los mit mir? Zurück in meiner Wohnung, wo ich mich bäuchlings auf den ausgerollten Futon fallen ließ, hielt ich Rückschau auf die letzten Tage. Ich hatte erstens eine Beziehung geführt, die keine war, und zweitens war mir bescheinigt worden, dass ich ein Loser war. Ein Assi. Ein Freak.“
Distanz schaffen
Milena Michiko Flašar stellt einen Menschen in den Mittelpunkt ihres Romans, den zu mögen schwer fällt, doch die Perspektive der Fünfundzwanzigjährigen wirft ein bösartig genaues Licht auf Verhältnisse im modernen Japan (und ganz sicher nicht nur dort), wo Medien und Unterhaltungsindustrie soziale Nähe erstickt und längst ersetzt haben. Sie lässt die Abgebrühtheit und Leere dieser Existenz spürbar werden und sorgt damit zunächst für Abstand zur Figur der Suzu, eine Distanz, die notwendig ist, um das Interesse daran zu wecken, was dieser ihr eigene bittere Blick auf die Sinnlosigkeit dieses Lebens noch entdecken könnte. Soll man sie aufgeben? Wird sie in Lieblosigkeit und Einsamkeit langsam zugrunde gehen? Flašar hat dem Phänomen der Hikikomori, der hoffnungslos vereinsamten Jugendlichen Japans einen früheren Roman (Ich nannte ihn Krawatte) gewidmet, der in 19 Sprachen übersetzt wurde, und wer die Bücher dieser ungewöhnlichen Autorin kennt, weiß, wie behutsam und originell sie sich auf die Suche nach verschütteter Menschlichkeit macht und eine Sprache für Außenseiter findet, die im Zentrum stets unsichtbar bleiben.
Respekt vor dem Tod
Suzu zieht Bilanz und findet in ihrem ‚sozialen Minus‘ zumindest den Vorteil, keine Drecksarbeit zu scheuen, keinen Wirbel um sich zu machen und mit dem Mopp umgehen zu können. Also heuert sie bei Herrn Sakai an, als Leichenfundortreinigerin in seiner Firma, die die Wohnungen einsam Verstorbener desinfiziert und entrümpelt. Kodokushi und Kodokusha nennt man die einsam Verstorbenen, die lange nicht entdeckt werden; mit Herrn Sakai erschafft die Autorin eine Figur, die auf Respekt vor dem Tod und auf dem Zusammenhalt seines Teams besteht - jeder tote Mensch habe das Recht darauf, dass man sich seinem Leben noch einmal annähert, indem man es aufräumt. Und danach wird gemeinsam gegessen. Wir erfahren, dass sein eigener Vater sein erster Fall war:
„Je länger ich damit beschäftigt war, sein Haus leerzuräumen, desto weniger ging es um die Person meines Vaters. Ob wir uns geliebt oder gehasst hatten, wurde zur Nebensache. Unser Streitgespräch verklang. Stattdessen breitete sich eine tiefe Zufriedenheit in mir aus. Ich brachte jemandes Dinge in Ordnung. Da er es selbst nicht tun konnte, tat ich es für ihn. Darum ging es.“
Wenn es nur die Dinge wären, die in Ordnung gebracht werden müssen, würde Suzus Schutzmauer sicher nicht so rasch durchlässiger werden. Doch die Nähe zu den verstorbenen Menschen verändert sie, der Ekel, den sie überwindet, das Mitleid mit allem, was nicht mehr zu ändern ist.
Verlorenes Spiel
Die Autorin entwickelt mit Sorgfalt, wie die junge Frau in ihrer Arbeit beginnt, wahrhaftiger zu sich selbst und zu anderen zu werden und dadurch auch ganz allmählich ein deutlicheres Bild von ihren Gefühlen zu bekommen. Sie sagt ihren Eltern, die von ihr enttäuscht sind, die Wahrheit, dass sie nämlich ihre Arbeit liebt.
„Ich sagte Leichenfundortreinigung. Nicht Gebäudereinigung. Ich nannte die Dinge beim Namen. Kodokushi. Kodokusha. Die Wörter waren Wörter, und sie kamen mir ohne Widerstand über die Lippen. Ich verwendete sie als das, was sie waren. Wörter, die, indem sie etwas beschrieben, diesem Etwas so nahe wie möglich kamen.“
Nichts anderes bedeutet Kommunikation, und indem sie sie erprobt und ihren Widerwillen überwindet, kommt sie sich und anderen auch emotional näher. Herr Sakai bleibt skurril, doch seine Lebensweisheit wird auch für sein kleines Team aus Suzu und drei Männern zum Maßstab:
„Wer schaut schon auf den anderen? In Wahrheit ist doch jeder nur auf seinen eigenen Vorteil aus, und wer es nicht schafft, sich in der vorderen Reihe zu platzieren, der hat das Spiel verloren, noch ehe es begonnen hat.“
Diese Menschen, die vermeintlich ihr Spiel schon verloren haben, interessieren die japanisch-österreichische Schriftstellerin, und es gelingt ihr auch diesmal wieder, ihre Blockaden und verschütteten Empfindungen aufzuspüren und freizulegen, tröstlich und einfühlsam. Dramatische Happyends sind ihre Sache nicht, wohl aber das subtile Ausloten von menschlichen Möglichkeiten.
„Wir lachten. Menschen waren seltsam, dachte ich. Unberechenbar, kompliziert und zutiefst komisch waren sie.“
(Lore Kleinert)
Milena Michiko Flašar *1980 in St. Pölten, Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters, lebt als Schriftstellerin und Lehrerin in Wien
Milena Michiko Flašar "Oben Erde, unten Himmel"
Roman, Verlag Klaus Wagenbach 2023, 304 Seiten, 26 Euro
Weiterer Buchtipp zu Milena Michiko Flašar
"Herr Katō spielt Familie"