Milena Michiko Flašar
Herr Katō spielt Familie
Auf seinem Heimweg vom Arzt, der ihn für rundum gesund erklärte, weicht Herr Katō vom gewohnten Weg ab, und auf einem Friedhof wagt er ein spontanes Tänzchen, wie ein Affe, wie ein sterbender Schwan, "wie in dem Ballett, in das ihn seine Frau vor der Ehe gezwungen hat, damit er wüsste, sie sagte es so, ‚wer ich bin‘."
Unglücklich im Ruhestand
Diesen ungewöhnlichen kleinen Ausbruch hat Mie beobachtet, eine junge Frau, die ihn als jemanden erkennt, "der viel zu selten und viel zu wenig gebraucht wird", und ihm anbietet, für die Agentur "Happy Family" zu arbeiten. Wie unglücklich Herr Katō mit seinem Ruhestand ist, macht Milena Michiko Flašar in ihrer wunderbar zarten sprachlichen Begleitung des Mannes deutlich, der durch diese Begegnung ermutigt wird, Wagnisse einzugehen und zugleich zu Hause eine kleine Herzschwäche erfindet, um Aufmerksamkeit zu erzwingen. Zu wissen, wer seine Frau wirklich ist, ist ihm auf leise Weise längst abhanden gekommen und mit ihrer Ankündigung, wieder Tanzunterricht zu nehmen, wächst seine Furcht, sich noch überflüssiger zu fühlen. Man hat sich in Gewohnheiten eingerichtet, und ihr Wunsch, das Haus auf dem Hügel zu verlassen, bedroht ihn:
"Er ist sich sicher: In einer Wohnung, egal ob hier oder in Paris, würde er zu sterben beginnen. Sie wäre der Anfang eines langsamen Dahinsiechens. Die Vorstufe zur Urne. Ob sie das mit 'Verkleinern' meint? Ihm ist im Gegenteil nach 'Vergrößern' zumute."
Versäumtes nachholen
Mit dem Vorschlag Mies, Rollen zu übernehmen, für die man engagiert wird, um als Stand-In jemanden zu spielen, der gebraucht wird - einen liebenden Großvater, einen freundlichen Chef auf einer Hochzeitsfeier, einen wohlwollenden Ehemann - ändert sich alles, denn jeder Part vergrößert Katōs Erfahrungsraum – und doch wieder nicht. Die Rollen erlauben ihm Einlass in fremde Leben, mit ihren Bedürftigkeiten und Leerstellen, die ihm selbst die Leere seines Lebens und die ungenutzten Chancen näherbringen. Ließe sich das, was man versäumt hat, nachholen? Rächen sich die nicht gelebten Möglichkeiten? Er erinnert sich, dass er seiner Frau mal ein Leben versprochen hat, "das wie Tanzen war", kauft Rosen für sie, plant die lang vergessene Reise nach Paris, während er sich in jeder Rolle neu erlebt.
Ganz nah bleibt die Autorin an dem, was Herr Katō denkt, tut, auslässt, erfindet oder beschönigt, in vielen federleichten, schwebenden Bildern, die ineinander greifen und, scharf gestellt, die Möglichkeiten realer Kommunikation mit anderen ebenso wie ihre Grenzen ausloten. Doch Mie steigt schließlich aus dem gemeinsamen Geschäft aus, nachdem sie die allzu heikle Rolle eines toten Mädchens einnahm, und auch für Herrn Katō rücken die Grenzen des Spiels beängstigend näher.
"Sie treten ein in mein Leben, aus dem Schatten eines Baumes heraus, und jetzt wollen sie mittendrin umkehren, wo ich ihnen gefolgt bin, und lassen mich mit nichts als Rätseln zurück? Ich meine, wer sind Sie?"
Fremd und vertraut
Der österreichischen Schriftstellerin mit den japanischen Wurzeln, deren erster Roman "Ich nannte ihn Krawatte" 2012 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand und zum Bestseller wurde, gelingt es, das Zusammenspiel von Fremdheit und Vertrautheit als Grundbedingung unser aller Leben lebendig werden zu lassen, ein fragiles Gespinst, in dem sich zu verfangen keine Kunst ist. Ein melancholisches, wunderbares Buch, das auch die Sackgassen mit poetischem Licht erfüllt und den Geheimnissen seiner Personen ihre durchaus auch oft komische Würde belässt.
(Lore Kleinert)
Milena Michiko Flašar, *1980 in St. Pölten als Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters, lebt als Schriftstellerin und Lehrerin in Wien
Milena Michiko Flašar "Herr Katō spielt Familie"
Roman, Verlag Klaus Wagenbach 2018, 176 Seiten, 22 Euro
eBook 17,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Milena Michiko Flašar
"Oben Erde, unten Himmel"