Birgit Birnbacher
Wovon wir leben
Einatmen, ausatmen, mehr aus als ein, „immer mehr geben als nehmen". Die Krankenschwester Julia Noch ist Asthmatikerin, „knapp am Sauerstoff vorbei" sagt sie warnend, wenn jemand in ihrer Nähe rauchen will.
Verhängnisvoller Fehler
Sie war immer engagiert, „gern für andere da, wenn sie weinten oder Schmerzen hatten, weil ich es konnte, weil ich es ernst meinte." Aber sie ist zunehmend überfordert, wie alle in diesem Beruf. Der bürokratische Aufwand kostet zu viel Zeit - Zeit, die für die Patienten verloren geht:
„Mit jedem eingetragenen Häkchen in die Datenmaske, jedem abgearbeiteten Kreuzchen meiner Aufgabenliste wurde der Mensch vor mir abstrakter."
Als sie einen verhängnisvollen Fehler macht, der für eine Patientin lebensbedrohlich ist, muss sie gehen und verkriecht sich in ihrem Heimatdorf im Salzburger Innergebirg bei ihrem Vater. Was sie erst jetzt erfährt: Die Mutter hat ihn verlassen, wollte ihre eigenen Bedürfnisse nicht länger verdrängen müssen. Jetzt lebt sie in Syrakus mit einem neuen Mann. Zurückgelassen hat sie auch Julias Bruder, der als Kind an einer Hirnhautentzündung erkrankte, die zu spät diagnostiziert wurde. Er ist geistig behindert und lebt im Heim.
Leben in Bedienung
Der Vater ließ sich vorzeitig pensionieren, ohne zu ahnen, was „ein Arbeiter ohne seine Arbeit und er ohne diese Firma war." Von seiner Tochter erwartet er, dass sie die klassische Frauenrolle übernimmt und ihn versorgt. So kennt er es, so war es immer und so soll es bleiben. Im Dorf ist dagegen nichts so geblieben, wie es war. Die zwei Fabriken, in denen Schokolade und Aluminium produziert wurden, sind geschlossen, die Männer haben keinen Job mehr, lungern herum, spielen Karten, betrinken sich. Die Kneipe ist ihr Zuhause geworden.
Die Autorin nimmt uns mit in dieses Dorf, in dem es „nur alle drei Kilometer eine Straßenlaterne gibt", schildert kühl und detailliert, wie trostlos es dort ist. Zugleich aber macht sie die tiefe Hoffnungslosigkeit ihrer Protagonisten spürbar, die mit ihrem Alltag nicht mehr klar kommen, weil allein die Arbeit ihr Leben strukturiert hat. Auch Julia ist verzweifelt, kehrt nur zurück, weil sie sonst nicht weiß, wohin.
„Seit ich aufgewacht bin in dieser vertrauten und doch so fremd gewordenen Umgebung, fühle ich mich zurückgeworfen auf etwas sehr Frühes, und fast ist mir, als müsste ich mich selbst als Kind an die Hand nehmen und trösten, denn der ganze mittlere Teil meines Lebens, die nähere Vergangenheit als Erwachsene scheint nichts mehr zu zählen, seit mein Körper nicht mehr so funktioniert, wie ich will."
Ein Jahr aus Glück
Eines Tages lernt sie im Dorf Oskar kennen, einen Städter, der sich in der Reha von einem Herzinfarkt erholt, einem „Luxusinfarkt", wie er sagt, weil er kaum was gemerkt hat. Was er erzählt, macht Julia zunächst neidisch:
„Ein ganzes Jahr aus Glück, das wirklich so heißt, ein Jahr bedingungsloses Grundeinkommen habe er zugesprochen bekommen, einfach so. Ein Kärtchen habe er ausgefüllt ... im Wartezimmer seiner Kardiologin."
Der studierte Geologe lebte in einer Fernbeziehung und war angestellt im Eichamt, wo doch „bloß Kommastellen in Listen einzutragen" waren: Langeweile und Einsamkeit - jetzt sucht er nach einem Neuanfang. Den findet er nach einer langen Nacht, in der der volltrunkene Wirt seine Kneipe beim Kartenspiel an Oskar verloren hat.
Neuanfang
In ihrem intensiven kleinen Roman beschreibt Birgit Birnbacher realistisch und zugleich poetisch, leise, einfühlsam und mit genauem psychologischen Blick auf die Menschen, die freudlose Atmosphäre dieses Dorfes, in dem die Bewohner mit ihrer Arbeit auch den Mut und die Kraft verloren haben, Leben und Arbeit anders zu denken. Bis der Städter sie aus ihrer Lethargie reißt, und sich Julia mit einer neuen Ausbildung auf ihre Fähigkeiten besinnt:
„Und ich ... bald achtunddreißig Jahre alt, Lehrling am ersten Tag. Ich, ein Stumpf ohne Wurzeln und Blätter, aber wenn der Wind in mich fährt, gibt es Widerstand, vielleicht sogar einen kleinen Gesang.”
(Christiane Schwalbe)
Birgit Birnbacher, *1985 in Schwarzach im Pongau, mehrfach ausgezeichnete österreichische Schriftstellerin, lebt in Salzburg
Birgit Birnbacher "Wovon wir leben"
Roman, Zsolnay Verlag 2203, 192 Seiten, 24 Euro
eBook 17,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Birgit Birnbacher
"Ich an meiner Seite"