Birgit Birnbacher
Ich an meiner Seite
"Schaut sie euch an, die Auswandererkinder! Fußball, Cremepeelings und Energydrinks, was soll das werden? Ein Leben nur aus Badetagen, euch wird das Lachen noch vergehen. Für diese Kinder, sagen die Leute in La Puerta, ist alles verloren, bevor es beginnt."
Neues Leben
Arthur Galleij war eines dieser Auswandererkinder, nachdem seine Eltern Österreich verlassen und in einer Bungalow-Siedlung an der spanischen Küste ein neues Leben begonnen haben. Inzwischen ist er 22, hat 26 Monate Gefängnis hinter sich gebracht und bekommt in einem wissenschaftlichen Resozialisierung-Projekt die Chance, sein Leben neu zu sortieren. Warum er bestraft wurde und woher er eine blutende Kopfwunde hat, als er bei seinem Betreuer Konstantin Vogl auftaucht, den alle nur "Börd" nennen, erfährt man in Birgit Birnbachers komplexem und fein konstruiertem Roman erst viel später.
Mehr als ein Wunschkonzert
Zunächst tritt mit diesem Börd, einem abgestürzten Therapeuten, ein sehr ungewöhnlicher Mensch in Arthurs Leben. Er schert sich nicht um Theorien, sondern geht, stets mit Alkoholfahne und blauem Mantel,
"mit Versuch und Irrtum, mit Intuition und Inbrunst, mit dem Willen, wirklich etwas zu bewegen"
vor, Irrtum inbegriffen, um Arthur mit Hilfe einer 'Hauptfigur' zu einem stabileren Selbst zu verhelfen:
"Diese Hauptfigur, die ich mit Ihnen entwickle, ist trotzdem mehr als ein Wunschkonzert. Wenn Sie so wollen, handelt es sich um den Spiegelsaal Ihres ureigenen Selbst. Also träumen Sie erstmal einen Entwurf von sich. Nicht, wer wir sein wollen, ist entscheidend, sondern wen wir darstellen können…Einer Hauptfigur kann man viel besser nacheifern als einem starren Ideal, das man niemals erreichen wird."
Nüchterner Blick
Neben der eigentlichen Handlungsebene im sehr gewöhnungsbedürftigen Wohnheim gibt es die Erinnerungen, die Arthur für Börd auf Band spricht - an seinen Freund Princeton, dem er nie böse sein konnte, obwohl er ihm illegale Aktivitäten etwa im Darknet schmackhaft machte, an die prekäre Dreierbeziehung beider mit dem schönen Mädchen Milla. Birnbacher blendet in die Szenerie im spanischen Nicht-Ort, die für den Jugendlichen nichts als Leere bereithält, und bewahrt doch immer den Abstand, der für einen nüchternen Blick erforderlich ist.
"Man schaue sich einmal ihre Eltern an: Sie haben sich immer um alles geschert, und jetzt wohnen sie fully furnished und herunterklimatisiert einsam und ausgekühlt bis auf die Knochen zwischen Designersofas und weinen in halbleere Whiskygläser. Sie sind bemitleidenswert!"
Als sich die drei Auswandererkinder auf den Weg in ein selbstständiges Leben in Barcelona machen wollten, kam es zur Katastrophe, und in Arthurs neuem Leben in Wien drei Jahre später bietet sich die Chance, ihren Auswirkungen nachzuspüren, ebenso wie den Gewalterfahrungen im Gefängnis. Wie schwer es allerdings ist, die Beschädigungen eines Lebens hinter sich zu lassen und neue Stabilität zu erlangen, entwickelt Birnbacher mit Empathie, hintergründigem Witz und genauer Kenntnis der geringen Chancen, die das System bietet, und die zu nutzen große Anstrengungen bedeutet, auch für einen klugen jungen Mann wie Arthur.
Gelungener Versuch
Das ersehnte Zertifikat, das Voraussetzung für Arbeit, Studium und eigene Wohnung wäre, ist schwer zu bekommen, aber Arthur lernt, sich seine Gefühle allmählich wieder zu eigen zu machen:
"Er, so hat er sich Betty gegenüber einmal ausgedrückt, sei durch all dieses Hauptfiguren-Getöse eben nicht seiner Vorbildfigur nähergekommen, sondern vor allem sich selbst",
und das bedeutet, auch auf Abkürzungen und Lügen zu verzichten. Birgit Birnbacher, die 2019 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, hat ihren literarischen Zugang zur Wirklichkeit treffend so beschrieben: "Nie ist alles so einfach, wie es aussieht. Insofern muss Literatur immer, vielleicht sogar vor allem ein Versuch gegen die Vereinfachung sein." Mit ihrem ersten Roman ist ihr dieser Versuch außerordentlich gut gelungen.
(Lore Kleinert)
Birgit Birnbacher, *1985 in Schwarzach im Pongau, Soziologin und mehrfach ausgezeichnete österreichische Autorin, lebt in Salzburg
Birgit Birnbacher "Ich an meiner Seite"
Roman, Paul Zsolnay Verlag 2020, 304 Seiten, 23 Euro
eBook 16,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Birgit Birnbacher
"Wovon wir leben"