Lutz Seiler
Stern 111
Preis der Leipziger Buchmesse 2020
Tote und Verschwundene versammelte Lutz Seiler im Epilog seines mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman "Kruso" – was aus all denen wurde, die die Flucht über die Ostsee versuchten, um die DDR hinter sich zu lassen, verband der Schriftsteller mit den Freiheitssehnsüchten seiner Hauptfiguren auf Hiddensee.
Freiheit auf der Insel
"Kruso steht für ein Modell von Freiheit, die er auf dieser Insel verwirklichen will. Die befinden sich auf hoher See, getrennt von der Gesellschaft durch das Wasser",
so beschrieb Seiler die Zufallsgemeinschaft am Ende des Staates DDR. In seinem neuen Roman "Stern 111" knüpft er daran an: Was wurde aus denen, die in der DDR eine Art 'Ersatzleben' geführt und ihre Sehnsucht fast vergessen haben, und was aus ihren Kindern, denen mit der Wende scheinbar alles möglich wurde?
Lutz Seiler erzählt von Carl, der Dichter werden will und Maurer war. Als seine Eltern mit der ersten Grenzöffnung in den Westen gehen, macht er sich aus Gera auf nach Berlin. Zuflucht findet er in einer Berliner Hinterhofhöhle, die dafür auserkoren schien, seine “prekäre Existenz in reines poetisches Dasein zu verwandeln“. Das 'Rudel' nimmt ihn auf, Menschen, die aus ihren bisherigen Leben herausgefallen sind, absichtlich oder aus vielen anderen Gründen.
Zwischen Eiszeit und Kommune
Sie sammeln sich um einen seltsamen Hirten und seine Ziege Dodo, eine anarchische Gemeinschaft im erträumten Freiraum zwischen "Eiszeit und Kommune". Auch Kruso und Edgar haben kurze Auftritte, Häuptlinge ohne Stamm, Wiedergänger einer anderen Zeit, die in dieser Zwischenwelt schon sehr weit entfernt zu sein scheint.
"Das erste freie Haus im Osten. Das erste Haus der frühen Häuser. Doch inzwischen hat man dort begonnen, seine Freiheit zu verkaufen. Nutzungsverträge, Fördermittel, ABM – Knete kommt vom Bullenstaat! Zaster vom Schweinesenat! Jetzt sollen wir einem Verrückten, der sich Comandante, Kruso, Kakerlake oder sonstwie nennt, auch noch Hundesteuer bezahlen…wir sind hier bei denen, die etwas tun, statt immer nur zu reden! Das ist der Osten, nicht Kreuzberg! Das ist ein Arbeiterstaat!“
Kurzlebige Gemeinschaften
Wie rasch die Widersprüche zwischen den äußerst unterschiedlichen Hausbesetzern die anfängliche Gemeinschaft spalten und ihre Hoffnungen sich zersetzen, entfaltet sich mit großer und oft auch komischer Zwangsläufigkeit. Carl schreibt ab und an ein Gedicht, arbeitet als Kellner in der 'Assel', einer der vielen Untergrundkneipen in den besetzten Häusern in Berlins Mitte, "großen, versteinerten Schiffen", die früher mal jüdisches Eigentum waren und seitdem zerfallen. Räume voller Abwesenheit, die man beschützen will, um ein neues, utopisches Leben in ihnen zu erschaffen.
Lutz Seiler spielt mit literarischen Bezügen und schöpft zugleich aus dem Schatz seiner Erinnerungen. In der Wendezeit war er Teil und Beobachter dieser kurzlebigen Gemeinschaften, und er, der in diesen Jahren zum Dichter wurde, beschwört die versunkene Zeit, das Zwischenreich im "verzwickten Narbengelände" der Stadtmitte in großartiger, sinnlicher Sprache und weitgespannten Bögen: Gerüche, Hitze und Kälte, Dunkelheit und Stille werden ebenso lebendig wie die Begegnungen der Menschen, und vergessenen Gegenständen, Werkzeugen oder auch dem DDR-Radio Stern 111 verleiht der Autor eine poetische Aura. Carl verirrt sich dabei immer wieder in den Spiegelkabinetten des Ichs, auf der Suche nach dem absoluten Gedicht, und die Sprache ist ihm Halt und Gefängnis zugleich.
Zwischen den Zeiten
Er verliert seine große Liebe auf diesem Weg und bleibt, und das ist der zweite große Erzählstrang, durch die Briefe seiner Mutter Inge immer verbunden mit der Wanderung seiner Eltern zurück zu ihren verlorenen Träumen.
"Seit ihrer Auswanderung führte sein Vater ein Doppelleben, so empfand es Carl. Ein Leben, das hin- und herzuwogen schien zwischen Computer und Akkordeon, einer technischen und einer musikalischen Welt. Was der Westen an Walter außerdem zum Vorschein brachte: dass sein Vater ein Mischwesen war, eine seltene Art des Übergangs, zwischen den Zeiten, halb aus Vergangenheit und halb aus Zukunft gemacht.“
Auch ihre Reise kreist um die Frage, was Freiheit für "Menschen in Aspik“ ist, was man zurücklassen muss, um zu neu beginnen, und was sich wiederfinden lässt. Sein Vater Walter erlebt seine Geschichte gemeinsam mit der Mutter als Reise von zweien, "die ausgezogen waren. Ihrem Traum hinterher wie einem altem Versprechen". Seiler zeichnet ihren Weg gen Westen nach als einen, der sich zugleich zurück in der Zeit bewegt,
"um sich darauf zu besinnen, wer sie einmal gewesen waren und was sie gewollt hatten, damals.“
Unheimliche Geschichte
Stern 111, das erste Radio der Familie wird zum Leitstern, und Carl kann diesem 'Elternrätsel' ebenso wenig entgehen wie seinem verlorenen Land. Lutz Seiler hütet sich, alle Fragen zu beantworten und alle Geschichten auszuerzählen. Mit seinem dicht komponierten, kunstvoll-lakonischen Text über die Vergeblichkeit der Suche nach magischer Verwandlung webt er ein Geflecht, das der Phantasie und der eigenen Erfahrung viel Raum bietet.
"Die Dinge geschahen. Man hatte keinen Einfluss darauf. Das sogenannte eigene Leben, es war eine ganz und gar unwahrscheinliche, eigentlich unheimliche Geschichte."
(Lore Kleinert)
Lutz Seiler *1963 in Gera/Thüringen, mehrere Literaturpreise, u.a. 2014 Deutscher Buchpreis, lebt bei Berlin und in Stockholm
Lutz Seiler "Stern 111"
Roman, Suhrkamp Verlag 2020, 528 Seiten, 24 Euro
eBook 20,99 Euro, AudioCD 24,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Lutz Seiler
"Kruso"