Lutz Seiler
Kruso
Deutscher Buchpreis 2014
"Nicht gesprungen" - obwohl die Verlockung zu springen nach dem Tod der Freundin groß war, hatte der seidene Faden, an dem Edgar Bendlers Leben hing, gehalten und ihn auf die Insel geführt - ein trauriger Freitag auf der Suche nach einem Robinson, der ihn aus seiner Lebensverwirrung erlöst.
Mythische Gestalt
Eine Insel der Seligen, "der Träumer und Traumtänzer, der Gescheiterten und Ausgestoßenen" nimmt ihn auf, der "Klausner" wird zur Arche, bietet Arbeit als Abwäscher und ungewohnten Zusammenhalt. Kruso, Herr aller Saisonkräfte und eine fast mythische Gestalt, nimmt sich seiner an und wird ihm zum unvergleichlichen Lehrer:
Das Denken macht die Dinge lächerlich, Ed. Alles wird zur Anekdote. Ins Innere der Poesie kommen wir nie … Was wir aber brauchen, ist unsere Stimme, sie ist die Musik, sie lauscht den Worten die Welt ab.
Zu den Wurzeln der Freiheit
Ed erprobt seine fremd gewordene Stimme im Gespräch mit ihm und einem toten Fuchs, und langsam macht er sich berührbar, gewinnt Abstand zu den Beständen von Wissen, die ihn vom Leben entfernten. Krusos Utopie, jeden "Schiffbrüchigen" in drei Tagen und Nächten zu den Wurzeln der Freiheit zu führen, bleibt zwar vage und vielgestaltig, doch gerade diese Offenheit und Unbestimmtheit eröffnet Edgar und vielleicht auch anderen Inselsuchern einen "Ort zur Gewinnung von Zeit", in einem Land, dem die Zeit abläuft und das keinen Ort für Entwicklung mehr bietet.
Schutz gegen die Angst
Doch diese Utopie löst sich in dem Maße auf, wie ihr Boden, die reale DDR, erodiert. Nur der Klang der eigenen Stimme, die Reflexion über die Freiheit, das Ausloten der toten Zonen, bietet Schutz gegen die Angst – dies in Worte zu fassen, ist Lutz Seiler in seinem ersten Roman, den man vordergründig als Abenteuerroman ebenso wie als Liebesroman lesen könnte, großartig gelungen.
Er spürte die Einschlüsse alter Angst, mumifizierte, halb versteinerte, unsterbliche Ängste, zur Auferstehung bereit…Gefühle, die man nie wiederhaben wollte, stecken fest auf diese Weise, tief in einem selbst, dachte Ed.
Freiheit und Freundschaft
Teil einer verschworenen Gemeinschaft zu sein, für die besondere Gesetze gelten, mag einen Schutzraum gegen die Verlorenheit bieten und muss doch scheitern - für Ed ebenso wie für Kruso, diesen offenbar so starken Gefährten und Bruder im Geiste der Dichtkunst. Doch indem er die Auflösung des scheinbar bindungslosen Insellebens beschreibt, gelingen Seiler meisterhaft komponierte poetische Bilder, die das gescheiterte Land im größeren, grundsätzlichen Kontext beleuchten. Sie grundieren die phantastische Geschichte von Freiheitssuche und Freundschaft mit ungewöhnlicher Tiefenschärfe
Vielleicht gab es ein tiefer liegendes, unsichtbares Myzel von Vergeblichkeit, in dem sie alle wurzelten, von dem sie alle herkamen und austrieben? Eine Verwurzelung, die tief, weit, ja, bis auf die andere Seite der Geschichte reichte, wo das Kontinuum der Leere herrschte, jenes starke, verlockende Nichts, von dem Ed sich mit Mühe abgewendet hatte vor dem Antritt seiner Reise.
Richtung Westen
Die Konfrontation mit dem Nichts, dem Tod, auch der ungezählt vielen, die die Insel in Richtung Westen verließen, ist der eigentliche Kern dieses Romans. Vor allem aber beschwört Lutz Seiler die Kraft der Poesie, die Macht der Wörter. Ganz im Sinne von Brechts Erkenntnis, dass uns, wenn alle Irrtümer verbraucht sind, als "letzter Gesellschafter das Nichts" gegenüber sitzt, tritt Seiler mit der geballten Sprache dieses schönen, traurigen Romans gegen die Verlockung an, aufzugeben.
(Lore Kleinert)
Lutz Seiler *1963 in Gera/Thüringen, mehrfache Auszeichnungen, 2014 Deutscher Buchpreis
Lutz Seiler "Kruso"
Roman, Suhrkamp 2014, 484 Seiten, 22,95 Euro
eBook 19,99 Euro, Hörbuch Download 16,71 Euro
Weiterer Buchtipp zu Lutz Seiler
"Stern 111"