Martina Bergmann
Mein Leben mit Martha
Eines Tages steht Heinrich mit einem weißen Rennrad vor der Tür, im Tour-de-France-Trikot und mit weißen Haaren, 48 Jahre älter als die junge Buchhändlerin, deren Laden er betritt: "Schön hier, sagte er, aber nicht genug für dein Gehirn. Dafür bin ich jetzt zuständig." Und kommt regelmäßig wieder. Eine ungewöhnliche Beziehung beginnt.
Irgendwie verschaltet
"Jeder hat so seine Art Prinz", kommentiert die Kollegin trocken. Aber zum Prinzen gehört eine Prinzessin, keine angetraute, aber eine langjährige große Liebe: Martha. Was nicht auf den ersten Blick zu merken ist: Martha, über 80, ist dement, aber es ist eine umgängliche Form. "Sie ist in einer poetischen Verfassung", fröhlich, geschäftig, sie weiß ihre Erinnerungslücken geschickt zu verbergen und zu überspielen. Die studierte und promovierte Soziologin lebt mit vielen Zetteln in vertrauter Umgebung. Sie bestellt gern ein Taxi, um nach Moskau zu fahren, klaut auch mal, fegt und räumt, vergisst darüber gern das abendliche Käsebrot oder das Frühstück, deshalb bekommt sie es im Bett serviert. "Du musst nicht meinen, sie sei dumm, sagt Heinrich ... Sie war immer geistreich, und das ist sie bis heute. Sie ist nur irgendwie verschaltet."
Heinrich stirbt zwei Jahre später an Krebs, "pass gut auf sie auf" sagt er noch. Martha bleibt allein zurück, Martina Bergmann wird ihre Betreuerin, im kleinen Haus mit Ofenheizung, das Heinrich ihr vererbt hat.
Böswillige Nachbarn
Martina respektiert Martha in ihrer Persönlichkeit, beobachtet, versteht, interpretiert mit Geduld und liebevoller Zuwendung. Sie reguliert nicht unnötig, lässt ihr Freiheit, erinnert sie nicht ständig an ihr Handicap und nimmt Martha immer nur dann an die Hand, wenn sie Angst hat, in Stress gerät, weil sie sich in fremder Umgebung nicht mehr auskennt und Menschen begegnet, denen sie misstraut. Denn ihr Instinkt funktioniert bemerkenswert gut. Eine wichtige Eigenschaft, als es darum geht, wie und von wem sie tagsüber betreut werden soll, wenn Martina arbeitet. Natürlich gibt es behördliche Notwendigkeiten und Nachfragen, bürokratische Hürden, Anwälte, Amtsärzte, Betreuungsrichter, Pflegedienste – eine kluge Sozialarbeiterin urteilt: "Martha hat Einschränkungen. Aber ihre Fähigkeiten machen das wett, mit Leichtigkeit." Nicht mit Martha gibt es Schwierigkeiten, sondern mit den Nachbarn - die ungewöhnliche Lebensgemeinschaft weckt Neid und Missgunst. Zwei Frauen lauern ihr immer wieder auf, wollen sie ins Heim bringen, hetzen gegen Martina.
Kleines altes Mädchen
Vielleicht liegt es an der unkonventionellen, mutigen und positiven Lebenseinstellung der Autorin, dass sie das alles halbwegs reibungslos bewältigt, oft Glück hat, "gute" Menschen trifft, die helfen statt zu verhindern. Sie stört sich nicht daran, dass Martha Joghurtbecher nach einem undurchschaubaren System auf der Treppe gruppiert und im Geschirrspüler ihre "Schätze" aufbewahrt – vom Schokohasen bis zum Foto von Heinrich. Sie ist verspielt, "ein kleines altes Mädchen mit weißen Haaren." Vielleicht liegt es auch an Martha, die ihr mit Urvertrauen und großer Zuneigung begegnet. Sie ist – sagt Martina in einer Talkshow – so etwas wie meine beste Freundin.
Zwischen den Zeilen dieses ungewöhnlichen, zauberhaften und klugen Buches, das mit großer Empathie und Menschenliebe geschrieben ist, erkennt man ein anderes Verständnis von Demenz – kein theoretisches, medizinisches oder wissenschaftlich belegtes. Es ist der Respekt, der diese Lebensgemeinschaft trägt, der Freiraum, der auch einem dementen Menschen gewährt wird, damit er trotz Einschränkung seine Würde behält, lustvoll und beschützt leben kann, statt eingesperrt zu werden in Heime, Regeln, Konventionen.
(Christiane Schwalbe)
Martina Bergmann, *1979 in Ostwestfalen, wo sie auch noch lebt, Verlagsbuchhändlerin, studierte Geisteswissenschaftlerin
Martina Bergmann "Mein Leben mit Martha"
Roman, Eisele Verlag 2019, 224 Seiten, 18 Euro, Taschenbuch 11 Euro
eBook 14,99 Euro