Paulus Hochgatterer
Fliege fort, fliege fort
Furth am See, ein fiktiver Ort, in dem Paulus Hochgatterer Kommissar Kovacs und Psychiater Horn agieren lässt – unabhängig voneinander, zum dritten Mal. Aber man muss die zwei Vorgängerromane ( ("Die Süße des Lebens", "Das Matratzenhaus") nicht gelesen haben, um diesem kriminalistisch-psychologischen Kammerspiel mit Spannung zu folgen.
Kurz vor dem Ersticken
Es passieren unerklärliche Gewalttaten in Furth: Ein schwer misshandelter alter Mann wird ins Krankenhaus eingeliefert und behauptet, beim Baumschnitt von der Leiter gefallen zu sein. Im Magen einer kurz vor der Erstickung eingelieferten Ordensschwester findet man Katzenfutter. Einen rechtsradikalen Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes attackieren Unbekannte mit einer Steinschleuder, die Wohnhausanlage eines Bauunternehmers und Stadtrats wird mit dem Bild der Hagia Sophia und mit den Sätzen "Gott ist grohs" und "Wir sind alle Neger" besprayt. Niemand weiß, wer dahinter steckt. Vier Kapuzenmänner schlitzen einem Mann die Kopfhaut mit einem Siegelring auf, und ein unbegleiteter Flüchtling versucht, sich zu erhängen, und ein kleines Mädchen wird entführt:
"Jetzt sitzt sie hier, mitten in diesem Raum, ein blasses, dickliches Mädchen mit dunkelblondem Haar und pinkfarbener Brille … Nach einer Weile sagt sie, Separationsraum sei ein seltsames Wort, und ich sage, den Rekord habe ein Bub namens Rudolf gehalten, zwölf Jahre alt. Er sei zehn Tage hier drin gewesen, ohne Unterbrechung. Warum, fragt sie. Weil er ein Wegläufer war, sage ich."
Trügerische Idylle
Nach und nach setzen sich scheinbar unzusammenhängende Ereignisse zu einem Bild zusammen, das in eine noch nicht lange zurückliegende Vergangenheit reicht, in der "Glatze" und "Einzug in Jerusalem" peinigende Strafen für Kinder waren, die gegen die Regeln verstoßen hatten oder gar weggelaufen waren:
"Bei einem Heim für Kinder und Jugendliche handle es sich um eine hochsensible Einrichtung, die auf gewisse Arten von Erschütterung viel empfindlicher reagiere, als man sich das als Außenstehender vorstelle. … Der Direktor fasst mit der linken Hand an sein Kinn, drückt es nach oben, holt mit der rechten aus und schlägt sie ihm flach ins Gesicht."
Man muss genau lesen bei Hochgatterer und höllisch aufpassen, denn er legt von Anfang an Fährten, lenkt den Blick auf heitere Dialoge zwischen Horn und seiner Cello spielenden Frau oder auf Kovacs' Herzrythmusstörungen, streut zwischendurch aber immer wieder Einzelheiten ein, die entscheidend für das Geschehen sind. Auch die Idylle im kleinen Ort am See ist trügerisch. Da gibt es das Jugendzentrum "Come In", vorwiegend besucht von Jugendlichen, die ihr Leben nicht in den Griff kriegen, und die sogenannte "Burg", ehemals Kinderheim und inzwischen eine Flüchtlingsunterkunft, bewacht vom rechtsradikalen Sicherheitsdienst - zwei wesentliche Schauplätze.
Komplexes Drama
Hochgatterer verknüpft anfänglich lose Fäden zum komplexen Rachedrama, in das so viele Personen verwickelt sind, dass man sich gar nicht alle merken kann. Immer wieder gelingt es ihm, den Leser zu verwirren, abzulenken, auf harmlose Pfade zu führen, um in Umwegen zum roten Faden zurückzukehren: Wie nachhaltig das Leben von Kindern und Jugendlichen durch Erwachsene zerstört werden kann. Ein packend erzählter Roman, zugleich Krimi und soziologische Analyse, in dem der Autor mit großer psychologischer Einfühlung nicht nur die Charaktere seiner Hauptfiguren beleuchtet, sondern beklemmend genau Gefühle wie Hass und Angst, gesellschaftliche und seelische Abgründe auszuloten versteht.
(Christiane Schwalbe)
Paulus Hochgatterer, *1961 in Amstetten/Niederösterreich, Kinderpsychiater, österreichischer Schriftsteller mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen, lebt in Wien
Paulus Hochgatterer "Fliege fort, fliege fort"
Roman, Deuticke Verlag 2019, 304 Seiten, 23 Euro
eBook 16,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Paulus Hochgatterer
"Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war"