Hendrik Otremba
Kachelbads Erbe
Irgendwo in Los Angeles, Mitte der 1980er Jahre: In riesigen Tanks, gefüllt mit flüssigem Stickstoff, lagern bei minus 196° C Menschen oder besser: Leichen, denen - könnte man auf den ersten Blick sagen - buchstäblich das Blut in den Adern gefroren ist. Aber so einfach funktioniert das eisige Konservieren von Menschen nicht.
Über das Leben hinaus
Es bedarf einer aufwendigen Prozedur, um die "Kalten Mieter" in eben diesen Zustand zu versetzen, aus dem sie eines fernen Tages aufgetaut werden und zurück kommen könnten - "ohne Sorgen, ohne Leid." Mit Hilfe der Kryonik soll's möglich sein und entsprechende Anbieter gibt es tatsächlich bereits in den USA und Russland. In "Kachelbads Erbe" heißt die Kryonik-Firma "Exit U.S." und ihr Chef, der Koreaner Lee Won-Hong verspricht, was die Menschheit allenfalls im Glauben finden kann: "Der Tod ist nicht das Ende". Seine Philosophie:
"Die Kryonik ist eine Geisteshaltung, sie geht über das Leben hinaus … Was also, wenn ein Leben nach dem Tod möglich wäre, hier auf der Erde, und Krankheit, das Alter, das Unglück wären besiegt. Was, wenn der Tod nicht das Ende wäre, sondern der Anfang eines Neubeginns?"
Kühlung ohne Eiskristalle
Die junge Rosary lässt sich von Kachelbad zur Mitarbeit bei Exit U.S. überreden und in ihrer Ich-Erzählung im ersten Kapitel werden Leser denn auch ausführlich aufgeklärt über die umfangreichen und teuren Vorbereitungen, Planungen, Arztkonsultationen und Transporte, die mit Kryonik verbunden sind, aber auch über Hoffnungen und Bedenken, inklusive der Trauer der Hinterbliebenen:
"… sie alle, egal, ob sie Blumen brachten, die Oberfläche der Tanks ansprachen oder ihre Hände auflegten, einte eine gewissen Fassungslosigkeit."
Ganz nebenbei lernt sie von Kachelbad - eine weitere abenteuerliche Vorstellung in diesem Roman - wie man sich unsichtbar macht und damit zu größerer Wahrnehmung befähigt ist. Von der Möglichkeit, unbemerkt zu klauen oder gar eine Bank zu überfallen, mal ganz abgesehen.
Eine Form von Sterbehilfe
So ganz legal ist das Gefriergeschäft natürlich nicht, das wissen die wenigen Beteiligten auch ganz genau, aber für Rosary ist
"Das, was wir taten, … eine Form von Sterbehilfe, nur dass wir sie in der Hoffnung unternahmen, den Menschen, dessen Tod wir unterstützten, eines Tages wieder lebendig machen zu können."
Diese Menschen, die sich hinter den in scheinbarer Schwerelosigkeit schwebenden kalten Mietern verbergen, stellt Otremba im zweiten Teil vor – sie sind auf der Suche nach Gott oder nach dem Sinn des Lebens in einem neuen: Ein Schriftsteller, der bereits gestorben ist und als Phantom weiterlebt; eine Spanierin, die entführt, zur Prostitution gezwungen, dann drogensüchtig und schließlich eine Popstar wird; eine Wissenschaftlerin aus Kiew, die einen schwarzen Stein entdeckt, der die Kryonik revolutionieren könnte; ein Auftragsmörder aus Vietnam, der auf eine Art Wiedergeburt seiner Zwillingsschwester in seinem Körper hofft:
"Das war das Prinzip der Kryonik: Hoffnung. Dann würde ich meine Veränderung vollenden und du würdest in mir weiterleben können."
Dummheit der Menschen
Es sind ziemlich bizarre Biografien, zu denen sich dann eine weitere Lebensgeschichte gesellt, die – man muss schon sagen: endlich – von Kachelbad erzählt, diesem unscheinbaren, kleinen Mann, der sich weder von der Pleite des Unternehmens, noch von einem Erdbeben oder einem brutalen Überfall davon abhalten lässt, sein Lebenswerk zu vollenden, indem er unermüdlich die Geschichten der Tiefgefrorenen aufschreibt, um sie für die Nachwelt zu bewahren, die es vielleicht so gar nicht geben wird. Mit Blick auf riesige Containerschiffe sinniert er:
"Dort werden die letzten Menschen leben. Alles wird sich auf den Booten abspielen, weil kein Land mehr da sein wird, das bewohnbar ist, weil die Gletscher geschmolzen sind und der Meeresspiegel gestiegen ist, weil das Wasser die Städte verschluckt hat. Weil die Dummheit der Menschen das Eis geschmolzen hat."
Grenzenlose Fantasie
Ein ebenso ambitioniertes wie ungewöhnliches und düsteres Buch, in dem Hendrik Otremba ohne Furcht vor Klischees seiner ausufernden Fantasie keine Grenzen gesetzt und diesen vielschichtigen Roman dann doch überfrachtet hat. Er spielt mit Genres und Formen, pendelt zwischen Wirklichkeit und Utopie, spart nicht mit der kritischen Beschreibung sozialer Milieus und Visionen von einer besseren Welt. Dystopie, Science Fiction, Krimi – der Roman hat von jedem etwas und ist doch nicht wirklich einzuordnen.
(Christiane Schwalbe)
Hendrik Otremba, *1984 in Recklinghausen, Journalist, Schriftsteller, bildender Künstler und Sänger, lebt in Berlin
Hendrik Otremba "Kachelbads Erbe"
Roman. Hoffmann und Campe 2019, 432 Seiten, 24 Euro
eBook 19,99 Euro