Paulus Hochgatterer
Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war
Fünf Schwestern und Nelli, ein dreizehnjähriges Flüchtlingskind, das 1944 auf dem Bauernhof in Niederösterreich auftauchte und sich an ihre eigene Geschichte kaum mehr erinnert. Oder verschweigt sie sie, aus guten Gründen?
Fluchtinstinkte
"Katharina habe mit dem Ross Futterrüben vom Feld geholt, und bei ihrer Heimkehr sei ich plötzlich auf dem Wagen gesessen, stumm und voller Dreck…Ich könnte die Sache jetzt zu Ende erzählen: dass man mich tagelang nach meinem Namen und meiner Familie gefragt habe und ich kein Wort von mir gegeben hätte. Dass ich mit weiten Augen in die Welt gestarrt hätte, als sei mir der Teufel persönlich begegnet."
Aus ihrer Sicht ist die Geschichte dieser vierzehn Märztage kurz vor Kriegsende erzählt, und Nelli ist eine scharfe Beobachterin mit fremdem Blick und den Instinkten von Flucht und Mimikry. Eine der Schwestern ist eifersüchtig auf sie, für eine andere empfindet sie selbst große Zuneigung - Alltag im Krieg, und der Bruder des Bauern, der schwerkranke Laurenz, teilt mit Nelli ein Geheimnis: Der einzige Sohn der Familie ist gefallen, doch er hält den Brief mit der Todesnachricht zurück.
Ausnahmezustand
Die Geschichten "vom nicht ertrunkenen Kind" und "vom nicht erhängten Soldaten" flicht Paulus Hochgatterer ein, wie ferne Legenden und zugleich Zeugnisse des Kriegsgrauens. An den Anfang seiner Erzählung setzt er ein Zitat von Giorgio Agamben:
"Der Ausnahmezustand bezeichnet nicht die Diktatur, sondern einen rechtsfreien Raum, eine Zone der Anomie, in der alle rechtlichen Bestimmungen – insbesondere die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat – ausser Kraft gesetzt sind.“
In diesen Ausnahmezustand bricht der Krieg noch einmal ein, als ein sowjetischer Kriegsgefangener auf dem Bauernhof Unterschlupf findet, ein Maler, der eine zusammengerollte Leinwand aus Hermann Görings Beständen mit sich führt. Paulus Hochgatterer entwirft ein Kammerspiel aus Angst und Hoffnung, und als ein Trupp deutscher Wehrmachtssoldaten auftaucht, spielt er die Möglichkeiten im Angesicht roher Gewalt subtil und vieldeutig durch, in knappen, eindringlichen Sätzen.
"Es gibt Dinge, mit denen rechnest du nicht – mit Scharen von Flugzeugen am Himmel, mit Märtyrergeschichten, damit, wie gut sich jemand anfühlt, oder damit, dass jemand eine Ballade aufsagt. Manchmal rechnest du nicht mit der Bosheit von Menschen und manchmal nicht mit einem Bild, auf dem vier aufeinandergetürmte Pferde leuchten wie hundert brennende Ölzüge.“
Dichte Bilder
Nie maßt sich der Autor, der in Wien als Kinder- und Jugendpsychologe lebt, ein Urteil an, sondern er lässt aus den Blickachsen der unterschiedlichen Personen dichte Bilder entstehen, die sich überlagern und verändern, eingefärbt durch die Absurdität eines Krieges, der alle betrifft, aber auf ganz unterschiedliche Weise beeinträchtigt und herausfordert. Das Mädchen Nelli weiß längst, dass Geschichten wahr und falsch zugleich sein können, und als Leser ahnen wir, dass der Ausnahmezustand weiter reicht als uns lieb ist.
(Lore Kleinert)
Paulus Hochgatterer, *1961 in Amstetten/Niederösterreich, Schriftsteller und Kinderpsychiater, lebt in Wien
Paulus Hochgatterer "Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war"
Erzählung, Deuticke Verlag 2017, 112 Seiten, 18 Euro
eBook 13,99 Euro, Audio CDs 16,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Paulus Hochgatterer
"Fliege fort, fliege fort"