Mirko Bonné
Lichter als der Tag
Am Anfang von Mirko Bonnés Roman sind schon alle Motive versammelt: Das Licht, das Raimund Merz als Junge kannte und später nur noch in der Bahnhofshalle seiner Stadt Hamburg wiederfindet, das Leuchten auf einem fast vergessenen Bild von Corot, das Heimweh, "eigentlich ein Lichtweh", das sein Leben immer mehr beherrscht.
Jugendliebe
Als der erfolg- und ehrgeizlose Mann mit Anfang 50 auf dem Bahnsteig seine Jugendliebe Inger wiedererkennt, gerät er ins Taumeln, denn es wird ihm bewusst, dass sein Leben in die falsche Bahn geraten und im Halbdunkel verlorener Möglichkeiten steckengeblieben war.
"Selbstzerstörung beginnt im Herzen, die eigenen Sehnsüchte verlor man stets zuerst aus den Augen, und sehr schnell erschien einem der innere Gefühlskompass zusammengeschrumpft auf die Größe eines Sandkorns. Er hatte diese vor einigen Jahren einsetzende Verkümmerung seines Innenlebens zunächst gar nicht bemerkt, kaum gravierender als eine Magenverstimmung, leichte Kopfschmerzen oder eine entzündete Stelle auf dem Handrücken war ihm sein Zuschandengehen vorgekommen.“
Vernunftehen
Wer sich wiederfinden oder neu erfinden will, kommt um den Rückblick nicht herum: Mirko Bonné verbindet den Kampf seines Protagonisten, sein Leben wiederzugewinnen, mit den Erinnerungen an die Weichenstellungen der Jugend. Inger, deren Eltern bei einem Schiffsunglück ums Leben kamen, hatte seinen Freund Moritz geheiratet, während er sich mit Floriane zusammentat, der schönen und erfolgreichen Ärztin. Alle vier, die ihre Jugend als behütete Zeit erlebten, verloren unmerklich und auf unterschiedlich Weise den Bezug zu sich selbst, und Rücksichtnahme spielte dabei eine ebenso große Rolle wie Feigheit oder der Versuch, sich dem Erwachsenwerden zu entziehen. Mit poetischem Feingefühl und großer Kenntnis der literarischen Wagnisse der Romantik spürt Bonné den Verwerfungen nach, die diese Vernunftehen mit sich bringen:
"Das Unwirklichkeitsempfinden, das ihn täglich ratloser, mutloser und kraftloser machte, vielleicht, bestimmt war es eine Folge der ganzen Erfindungen, Schwindel und Lügen, die er seit Jahrzehnten seinen Mitmenschen auftischte, um ja nicht mit den Leuten in Berührung zu kommen.“
Licht im Leben
Wie die Welt sich dreht, wenn man sich der Berührung wieder aussetzt, erzählt Bonné mit furiosem Schwung: Raimund flüchtet mit seiner elfjährigen Tochter Linda nach Frankreich und verknüpft seine Geschichte auf sehr ungewöhnliche Weise mit Corots Gemälde vom "Getreidefeld im Morvan“, das er im Museum von Lyon wiederfindet. Im Licht, das in sein Leben zurückkehrt, lässt sich überprüfen, was tragfähig ist: die Freundschaft mit dem Kollegen Bruno, Liebhaber vieler Frauen und lebensfrohes Gegenbild von Männlichkeit, die alte, nie vergessene und immerhin schon einmal wiederbelebte Liebe zu Inger, die Kinder, die diesem zarten Romangewebe die Farbe der Hoffnung beifügen, ohne dass diese zum Ersatz für das Leben selbst, zur Sucht erstarrt. Wie sich die Viererbande der Eltern darin verstrickt, erzählt Mirko Bonné mit Blick auf die Generation der um 50jährigen, und sein Roman gewährt ihnen die Gnade möglicher Umkehr:
"Die Welt bestand aus Licht, und die Erinnerungen hörten nicht auf. Es war nie zu spät, auf die Suche nach etwas Verlorenem zu gehen.“
(Lore Kleinert)
Mirko Bonné, *1965 in Tegernsee, Schriftsteller und Übersetzer, lebt in Hamburg
Mirko Bonné "Lichter als der Tag"
Roman, Schöffling & Co 2017, 336 Seiten, 22 Euro
eBook 17,99 Euro