Carmen Stephan
It’s all true
"Vier Männer auf einem Floß" sollte eine Episode in Orson Welles‘ Film "It’s all true" heißen. 1941, als Amerika in den Krieg eingetreten war, las der damals 27jährige Regisseur eine kleine Meldung in der Zeitung - von vier Fischern, Jangaderos, die auf einem selbstgebauten Floß von Fortaleza nach Rio aufbrachen, um ihren Präsidenten um Hilfe zu bitten, denn sie waren rechtlos und bitterarm.
Als Helden gefeiert
Ihr Anführer Jacaré, der sich für diese Fahrt das Schreiben beigebracht hatte, bemerkte in seinem Tagebuch: "Der Wind war nicht unser Freund in diesem Tagen", doch als sie ankamen, wurden sie im ganzen Land als Helden gefeiert. Carmen Stephan skizziert in ihrem zweiten Roman ihre Geschichte in knappen, eindringlichen Bildern, erzählt vom Leben Jacarés, das von Beginn an mit dem Meer verbunden war und schließlich im Meer enden sollte.
"Er hatte keine Angst. Sie entfernten sich von ihrem Zuhause, ihren Hütten mit den Schilfdächern, dem täglichen Hunger im Bauch ihrer Kinder, der Ungerechtigkeit beim Teilen der Fische im Sand. Aber die Wahrheit war überall die Wahrheit. Und sie fuhren mit dieser Wahrheit.“
Leidende Seele
Der große Regisseur, der seit "Citizen Kane" als Wunderkind galt, will ihrer Fahrt in seinem Film über Brasilien ein Denkmal setzen, nur mit ihnen selbst im Mittelpunkt. Er freundet sich mit Jacaré an, lässt sich zeigen, wie man fischt, will nichts dazu erfinden, nicht in seinen Zauberkasten greifen: "Ich will, dass ihr es genauso macht, wie es war." Doch als er ihre Ankunft in Rio filmt, reißt eine große Welle die Jangadeiros ins Meer, und Jacaré wird nie mehr gefunden.
"Er war nicht da. Weil er nirgends war, war er überall. Manche sahen sein Gesicht in der Dorfmenge, bei den Dreharbeiten, dann verschwand es wieder. Der Untergegangene, den man nicht findet, zieht als leidende Seele umher, erschreckt alle anderen Seelen, sagt man im Nordosten.“
Zufällige Verstrickungen
Carmen Stephan verleiht dieser Begebenheit schicksalhafte Dramatik und spielt zugleich mit der Leichtigkeit zufälliger Verstrickungen, indem sie zeigt, wie Jacarés Tod seine Familie und die Gemeinschaft der Fischer fast zerreißt, und wie Orson Welles bei seinem Versuch, den Film dennoch fertig zu drehen, scheitern muss und nie darüber hinwegkommt. Doch nicht am Unvermögen des Regisseurs scheitert der Film, sondern daran, dass er vorzeitig abgesagt wird: Welles wird entlassen und die Filmrollen mit den erhaltenen 47 Minuten kamen erst kurz vor seinem Tod wieder ans Tageslicht.
In seinen Bildern hat Welles die Machtlosigkeit der Fischer, ihren Mut und ihre Würde genau und ohne jede Eitelkeit erfasst, denn er wollte ihre Wahrheit zeigen, mit der er sich durch den Verlust von Jacaré zutiefst verbunden fühlte. Wie weit ein Film diese Wahrheit berühren kann, auch das bringt uns die Autorin in ihren leuchtenden, schwebenden Imaginationen, die sie souverän zum Roman komponiert, sehr nahe.
(Lore Kleinert)
Carmen Stephan, *1974 in Bayern, deutsche Schriftstellerin, lebt in Genf
Carmen Stephan "It’s all true"
Roman, S. Fischer 2017, 120 Seiten, 16 Euro
eBook 14,99 Euro