Ulrich Schacht
Notre Dame
Der Schriftsteller und Journalist Torben Berg ist auf dem Weg nach Paris. Dort wird er Silvester verbringen, allein, ohne Ehefrau, Tochter, Geliebte. Es ist eine Reise in die Vergangenheit, voller Erinnerungen, die ihm auf der Seele lasten.
Im Chaos der Wendezeit
In Paris war er einmal sehr glücklich mit Henrike, genannt Rike, einer jungen Studentin aus Leipzig, 15 Jahre jünger als er, in die er sich über die Maßen verliebt hatte. Seine Ehe ging darüber kaputt, seine Tochter entglitt ihm fast, seine politische Vergangenheit wurde zweitrangig, sogar sein Glück darüber, dass endlich geschah, was er jahrzehntelang herbeigewünscht hatte: Den Untergang der DDR. Als er mit einem Kollegen in einen kleinen Ort nach Mecklenburg fährt, wo er aus seinem Leben und vom DDR-Knast erzählen soll, in dem er wegen staatsfeindlicher Hetze gelandet ist, sind sie mittendrin im Chaos der Grenzöffnung.
"Sie standen am Grenzübergang, aber es sah ziemlich aussichtslos aus: unzählige Autos, euphorische Menschmassen und Uniformierte, die sich wie Lämmer geben mussten, nachdem sie jahrzehntelang nur knurrende Kettenhunde waren, nicht selten losgelassene, die zubeißen durften, mussten."
Die Wendezeit im Blick
Es ist Wendezeit, alle sind in Aufruhr, die Grenzen sind geöffnet, im Osten beginnt nach der friedlichen Revolution eine Zeit der Veränderung, besser: Auflösung. Torben Berg fährt nach Leipzig, soll über ein Konzert von Wolf Biermann berichten, aber nicht nur darüber: Es soll eine Reportage über die Wendezeit werden, für eine große deutsche Zeitung, für die er arbeitet, seit er die DDR verlassen hat. Mehr als 20 Jahre ist das her. Und hier, in Leipzig, lernt er Rike kennen.
Dem Glück misstrauen
Ulrich Schacht blendet vor und zurück, verknüpft politische Erinnerungen mit der einzigartigen Erfahrung einer großen Liebe, der großen Liebe. Die junge Frau und der erfahrene Mann, sie im Osten aufgewachsen und sozialisiert, er feinsinniger und politischer Literat, der im Stasi-Gefängnis gesessen hat und dann freigekauft wurde. Rike lebt in fester Beziehung, Torben ist verheiratet mit einer Frau, die damals ebenfalls inhaftiert war – wegen Vorbereitung der Republikflucht. Sie haben eine 12jährige Tochter. Aus der zunächst vorsichtigen Begegnung mit Rike wird Leidenschaft, auf die er sich buchstäblich mit Haut und Haaren einlässt, sie indes bleibt misstrauisch, vorsichtig, zieht sich wieder zurück, traut dem Glück nicht,
"ich weiß nicht, was ich will, ich weiß nicht, was mich glücklich machen könnte", sagt sie, …."Ich weiß nicht, ob ich dich liebe, manchmal glaube ich es, manchmal vergesse ich es, manchmal bist du mir fremd, aber du weißt es genau, ja, ganz genau?! Du weiß sowieso alles! Was bin ich denn an deiner Seite, was soll ich denn sein?"
Rückkehr als Zeitzeuge
Als Journalist fährt er jetzt häufig in die ehemalige DDR, wird sogar zu einer Inspektionsreise durch die alten Haftanstalten eingeladen, da hat er selbst gesessen. Seine Reportagen sind gefragt. Aber er tut es vor allem, um immer wieder Rike zu treffen, irgendwann nicht mehr heimlich. Auch als Zeitzeuge ist er wichtig, ein Film wird gedreht über ihn, er spielt sich selbst, kehrt zurück an die Stätten der Vergangenheit, in seine Heimatstadt, erlebt,
"dass sie ihm in der vergangenen Woche seine alte Gefängniszelle beim Geheimdienst aufschließen mussten, damit er noch einmal den ausgelieferten Gefangenen geben konnte, den sie fast ein ganzes Jahr täglich vernommen hatten."
Beeindruckende Bilder
Das sind dichte, beeindruckende Passagen, aber sie allein machen nicht die Faszination dieses Romans aus, der – zugegeben – manchmal etwas weit ausholt, sich in Details verliert, das Tempo zu stark verlangsamt. Aber das ist der Stil Ulrich Schachts: Genau hinzusehen und zu beobachten, seelischen Verletzungen nachzuspüren und biografische Details zu erforschen, dabei ausgedehnt und sehr poetisch zu erzählen, eigene Gefühle zu durchleuchten, sich in beeindruckenden, großartigen Bildern von Landschaft und Natur zu verlieren, nahezu szenisch zu beschreiben, was er empfindet und erlebt: In Schottland und Paris, wohin er mit Rike reist, auf den Färöer Inseln zum Beispiel, wo er – ohne sie – beschließt:
"ich schreibe Dir ein Buch. Nur für Dich soll es existieren. Es soll Dir berichten, was wir hier zusammen gesehen hätten, wäre Dein Mut zu Dir selber stärker gewesen, ein wenig jedenfalls. … ich schreibe es Dir, weil ich versuchen will, diese Inselwelt auch mit Deinen Augen zu sehen. … So habe ich Dich ganz in meiner Nähe …"
Gelungenes Experiment
Es ist ein Experiment: Die Jahre der Wende in Deutschland und die Geschichte der politischen Verfolgung in der DDR kunstvoll mit einer großen, alles überspannenden, bittersüßen Liebesgeschichte zu verknüpfen, mit zwei Biografien, die sich überschneiden – ein Experiment, weil die Liebesgeschichte das Politische dominieren und Spannung sich allein daraus speisen könnte. Aber Schacht gelingt die Balance - zwischen politischer Präzision und emotionalem Rausch, zwischen historischem Ereignis und großer Liebe. Ein überaus vielschichtiger Roman, der genaue und geduldige Lektüre verlangt.
(Christiane Schwalbe)
Ulrich Schacht *1951 im Frauengefängnis Hoheneck geboren, wuchs in Wismar auf, 1973 in der DDR wegen "staatsfeindlicher Hetze" zu sieben Jahren Freiheitsentzug verurteilt, 1976 in die Bundesrepublik entlassen, lebt seit 1998 als freier Autor in Schweden.
Ulrich Schacht "Notre Dame"
Roman, Aufbau-Verlag 2017, 431 Seiten, 22 Euro
eBook 16.99 Euro
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