Sasha Marianna Salzmann
Ausser sich
"Die Zeit ist also ein Heute, von vor hundert Jahren bis jetzt.“ Diesen Satz Ingeborg Bachmanns stellt die Autorin als Motto vor ihren Roman, denn um den zeitlichen Ablauf geht es ihr nicht.
Bruchstücke
Die Geschichten der Zwillinge Ali und Anton, ihrer Eltern Valja und Kostja, der Großmutter, des Onkels in Istanbul und der Menschen, die ihnen begegnen, verschlingen und durchkreuzen sich, und Sasha Marianna Salzmann, Hausautorin und Dramaturgin am Maxim Gorki-Theater in Berlin, vertraut in ihrem ersten Roman darauf, dass sich aus den Bruchstücken der Erinnerungen etwas ganz Neues ergibt.
"Alis Erinnerungen legten sich aufeinander wie Folien und verrutschten. Sie ergänzten und widersprachen sich, ergaben neue Bilder, aber sie konnte sie nicht lesen, auch Kopfschütteln brachte nichts."
Zugang zu Erinnerungen
Junge Leute, die die Heimat ihrer Eltern nicht mehr kennen und vergeblich versuchen, einen Zugang zu deren widersprüchlichen Erinnerungen zu finden, sind gezwungen, Erfahrungen anders und neu zu sortieren, Grenzen zu überschreiten und Risiken einzugehen. Die Autorin (1985 in Volgograd geboren, seit 1995 in Deutschland) schickt Ali in Istanbul auf die Suche nach ihrem Bruder, und zugleich verschränkt sie diese Suche mit der Reise in die Vergangenheit der russisch-jüdischen Familie, die längst zerfallen ist, die Vergeblichkeit immer im Gepäck. Die Mutter Valja wollte Medizin studieren und wurde von ihrem Mann ebenso geschlagen wie viele andere Frauen in Moskau, bis von Eigenständigkeit und Würde kaum mehr etwas übrig war. Jedenfalls provoziert ihr Leben im neuen Land die Tochter, die jede Duldsamkeit und Überanpassung abwehrt und dennoch nicht weiß, was wirklich geschah.
"Ich reihe meine Vielleichts aneinander, Kügelchen für Kügelchen, ungeschliffene Murmeln, die für keine vorzeigbare Kette reichen. Nichts von dem, was sie neben ihrem Examensplan noch gedacht, gerochen, gefühlt haben muss in diesen Augenblicken, wird je zu mir durchdringen."
Einprägsame Bilder
Das, was erzählt wurde, ist nichts, woran sich diese jüngere Generation festhalten könnte- zu ungewiss sind diese Erzählungen, nicht mehr getragen von langzeitlichen Traditionen, Heimatgefühlen oder religiösen Geländern aller Art. Nur die Sprache selbst bietet Halt, und Sasha Marianna Salzmann beherrscht sie mit bemerkenswerter Virtuosität und produziert Bilder, die sich einprägen:
"Ali fehlten so viele Erinnerungen, ihr Gehirn sah aus wie das Gebiss jener Alten, die an der Metrostation Tschertanowskaja gebettelt hatte…Jedes Mal wenn Ali mit ihrer Oma und ihrem Bruder an der Bettelnden vorbeiging, klammerte sie sich an die Beine der Bettlerin und war nicht von ihr wegzureißen. Anton stand daneben und beobachtete das Schauspiel einer Oma, die an den Füßen der Enkelin zog, die an den Beinen einer Bettlerin hing, und alle drei schrien. Eine auseinanderfliegende Matrjoschka. So sah es in ihrem Gedächtnis aus."
Ohne Chance auf Heimat
Salzmanns Erforschung der Erinnerungen schwenkt irgendwann über zu Anton, dem Zwilling, der auch das Alter Ego der Schwester sein könnte, wenn sich denn die Grenzen zwischen den Geschlechtern aufheben ließen. Hier verliert der Roman mitunter an Präzision, doch beider Ablösung von den Eltern, nachdem der Vater betrunken vom Balkon fiel, wird bitter und böse und voller Trauer nachgezeichnet. Für den Onkel Cemal in Istanbul ist auch angesichts des Militärputsches klar, dass man sein Land nicht verlassen kann, "das schleppt man immer mit". Was aber geschieht mit Menschen, die keine Chance auf Heimat hatten, sondern ihre Identität neu konstruieren müssen? Sasha Marianna Salzmanns Roman erfasst das Lebensgefühl dieser Generation, die andere Erfahrungen 'mitschleppt', in einer Welt, in der der Verlust von Heimat und gesicherter Identität immer mehr zum Normalfall wird.
(Lore Kleinert)
Sasha Marianna Salzmann, *1985 in Wolgograd, Sowjetunion, 1995 nach Deutschland emigriert, Theaterautorin, Essayistin, Dramaturgin und Hausautorin des Maxim Gorki Theaters Berlin
Sasha Marianna Salzmann "Ausser sich"
Roman, Suhrkamp 2017, 366 Seiten, 22 Euro
eBook 18.99 Euro