Marion Poschmann
Die Kieferninseln
Einen "Bartforscher im Rahmen eines Drittmittelprojekts" in den Mittelpunkt eines Romans zu stellen, zeugt von Marion Poschmanns Begabung, ironischen Abstand zu ihren Figuren einzunehmen.
Fremde Räume
Der wenig erfolgreiche Privatdozent Gilbert Silvester lebt von mäßig bezahlten Arbeiten und pflegt Schülermarotten, um als empfindsamer Intellektueller zu gelten, und als er träumt, seine Frau, eine "Koryphäe der Fachdidaktik", betrüge ihn, fliegt er kurzerhand nach Japan. Marion Poschmann führt einen Mann, der am toten Punkt seines Lebens angekommen ist, durch neue, fremde Räume, ausgestattet mit sich verwandelnden Bildern einer gewaltigen Natur - keine Bildungsreise im europäischen Stil …
"weder mit Kunst noch mit Architektur, noch mit Geschichte verbunden, sie war zart und geheimnisvoll, und wenn daraus doch eine Form von Bildung erwuchs, ließ sie sich hinterher weder erklären noch abrufen."
Perfekter Selbstmord
Gleich mehrere Reisegefährten begleiten den Bartforscher: der Student Yosa Tamagotschi sucht nach dem besten Ort für seinen Selbstmord und provoziert Gilberts Widerstand. Matsuo Basho, im 17. Jahrhundert der große Meister des Haikus, gibt die Richtung der Reise vor, denn seine 2400 Kilometer umfassende Pilgerfahrt, auf den Spuren des Dichters Sagyo 500 Jahre vor ihm, wird Gilbert zur Inspiration, während der Student einen Leitfaden berühmter Orte für den perfekten Selbstmord im Gepäck hat. Und die unwillig und selten antwortende Gattin bleibt als Adressatin von Gilberts Mitteilungen ebenfalls an seiner Seite.
Schattierungen von Grün
Die Schriftstellerin hinterlegt die Reise der beiden ungleichen Männer mit den Panoramen grandioser Kiefernwälder, in deren Grünschattierungen sich Gilbert verliert und Abstand zu seinem leeren und dennoch angestrengten Leben gewinnt:
"Sie standen lichtnadelig und kompakt, und er tauchte ein in ihren Schatten, in ihr Zikadengrün, ihr Meergrün, ihr Fahrtwindschwarz…er ging im Glanz ihrer abertausend Nadeln, und je näher er versuchte hinzusehen, desto mehr entzog sich der Baum, verschwand er in seinem Versuch, für ihn eine Sprache zu finden."
Während er sich daran gewöhnt, Bäume zu bewundern, "eine vollkommen nutzlose Sitte, die aber in der japanischen Kultur tief verwurzelt blieb", relativieren sich die Fixierungen an seine eigene Geschichte des Scheiterns, und zugleich erscheint sie in einem veränderten Licht.
Spiel mit der Wahrnehmung
Die Erkundung der Wörter, die Vielfalt der Benennungen verbindet Marion Poschmann elegant und wirkungsvoll zu einem Sprachgeflecht mit sich verschiebenden Bildern, welches die banale Existenz des mittelmäßigen Erforschers von Bartdarstellungen in Kunst und Film poetisch neu verfugt. Indem er sich – ganz romantisch - der Erkundung der Natur preisgibt, verliert er – ganz buddhistisch – jene Bindungen und Projektionen, die ihn in der Mitte seines Lebens ins Abseits führten. Den studentischen Selbstmordsucher büßt er schließlich auch ein, doch wie 'wirklich' diese Konstruktion war, bleibt in Marion Poschmanns glanzvollem Spiel mit Wahrnehmung und Wirkung ebenso offen wie die Ziele dieser Reise:
"Die Wanderung als Lebensreise, das hieß, man stand an der Kreuzung und konnte wählen, ob man ging oder blieb, ob man den bisherigen Traum weiterträumte oder ihn gegen einen anderen tauschte. Und der eine war, so die buddhistische Auffassung, an der ewigen Wahrheit gemessen, so irreal wie der andere."
(Lore Kleinert)
Marion Poschmann, *1969 in Essen, hat Germanistik und Slawistik studiert, vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin und Lyrikerin, lebt in Berlin
Marion Poschmann "Die Kieferninseln"
Roman, Suhrkamp 2017, 168 Seiten, 20 Euro
eBook 16.99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Marion Poschmann
"Chor der Erinnyen"