Marion Poschmann
Chor der Erinnyen
In ihrem letzten Roman „Die Kieferninseln“ führte Marion Poschmann einen Mann, der am toten Punkt seines Lebens angekommen ist, durch neue, fremde Räume, nachdem er träumte, seine Frau, eine „Koryphäe der Fachdidaktik“ betrüge ihn - und kurzerhand nach Japan flog.
Verschüttete Erinnerungen
Er würde seine Gründe haben, befindet die verlassene Lehrerin Matilda, findet allerdings, „dass er überzog“, und in „Chor der Erinnyen“ entwirft die Autorin eine Parallelgeschichte, in der der abwesende Gatte mit ihr gemeinsam durch „Wolken der Abgeschiedenheit“ wandert und sie sich selbst „in etwas Ungreifbares, Schwebendes verwandelte, ein Luftgeschöpf“, das in diesem inneren Wald versinkt. Doch bevor sie sich ihrem Strudel aus verschütteten Erinnerungen anvertraut und der Auflösung keinen Widerstand mehr entgegensetzt, muss Mathilda etliche unangenehme Begegnungen ertragen. Die nüchterne Studienrätin, eingeschnürt in das Korsett geregelter Tagesabläufe und die Notwendigkeit des Geldverdienens, kommt sich dabei, leise und unheimlich, selbst abhanden:
„Etwas riss sie nach hinten, ins Gestern und Vorgestern, in den Strom der Jahre, die sie hinter sich zu haben glaubte, die aber immer noch eine Wirkung auf sie ausübten, sie hinterrücks durchdrangen und sie in eine unerfreuliche Spannung versetzten.“
Zuerst taucht Birte auf „und brauchte Geld“; die Schulfreundin mit dem Töpfercafé in Nordfriesland wird von Matildas Mutter als „unaufrichtig“ gekennzeichnet, doch das hält sie nicht auf. Mit Hartnäckigkeit und gleichermaßen Missachtung verfolgt sie Matilda zu einer weiteren Freundin, Olivia, der Forscherin, in den Wald, wo sich die drei mit Misstrauen und Aggressivität begegnen.
Poetische Bilder
Die Erinnyen der griechischen Mythologie erheben ihr Haupt, sind jedoch schwer zu entschlüsseln, und Marion Poschmann knüpft geschickt ein Netz von weitreichenden Bezügen und Anspielungen, in dem Matilda sich verfängt. Sie verliert die Übersicht über ihre Gefühle, ihre Gewissheiten, ihre vermeintliche Sicherheit. Und schließlich brennt der Wald, die äußere Katastrophe verknüpft sich mit dem inneren Verlust.
„Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen. So oft hatte sie das als Kind gehört, wenn sie zu früh eine Lösung gefunden hatte, wenn sie mit allem fertig war, während die anderen erst anfingen, und dann wieder die bleierne Langeweile einsetzte, die sie niederdrückte, plattmachte, sie in eine vorgesehene Form presste…“
Das, was man unter Normalität verstand, kommt der gut sortierten Frau abhanden, und Marion Poschmann findet für dieses allmähliche Eintauchen in verschüttete Bewusstseinszustände wieder wunderbare poetische Bilder, die sich allerdings mitunter nur schwer zusammenfügen. Die Erinnyen als Rächerinnen angepasster und beschädigter Weiblichkeit beziehen ihre Macht aus jahrtausendelanger Zerstörung. Die reale Person Matilda geht dabei verloren, doch in einem archaischen Chorgesang erschließt sich die Unmöglichkeit, mit realen Mitteln Heilung zu erreichen.
„Gegenwart findet jetzt anderswo statt,
auf der anderen Seite, im Wind.
Doch, sie war immer da. Es wäre ein Leichtes gewesen,
dorthin zu gelangen. Jetzt in den Fängen geflügelter Frauen,
jetzt aus den Lüften die Lebenden sehen.“
Marion Poschmann bietet in ihrem Roman ein von schöner Sprache getragenes Rätselbild, das zu begreifen und zu entwirren ein gewisses Maß an Geduld, an Bildung und an Neugier erfordert. Ein lohnendes Leseabenteuer!
(Lore Kleinert)
Marion Poschmann, *1969 in Essen, hat Germanistik und Slawistik studiert, vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin und Lyrikerin, lebt in Berlin
Marion Poschmann „Chor der Erinnyen“
Roman, Suhrkamp Verlag 2023, 190 Seiten, 23 Euro
Weiterer Buchtipp zu Marion Poschmann
"Die Kieferninseln"