Sherko Fatah
Der große Wunsch
Longlist Deutscher Buchpreis 2023
in einem Ort „am Ende der Welt" ist Murad nach langer Reise aus Deutschland ins Grenzland zwischen Syrien, der Türkei und dem Irak angekommen. Nicht als Tourist, sondern als verzweifelter Vater auf der Suche nach seiner Tochter, „die herkam, um einen verrückten Traum zu realisieren".
Suche nach Antworten
Murad lebt in Berlin und ist kurdischer Herkunft. Von seiner Frau ist er geschieden. Seit zehn Monaten ist die gemeinsame Tochter Naima verschwunden. Er hält die Ungewissheit nicht mehr aus, macht sich auf den Weg, um sie nach Hause zu holen – für seine Ex-Frau ein abenteuerlicher Egotrip. Er hat Kontakt zu zwielichtigen Mittelsmännern aufgenommen, seine Tochter ist einem Gotteskrieger gefolgt und hat sich dem Islamischen Staat angeschlossen.
„Wie konnte Naima in ihrem Alter noch glauben, die Welt sei so harmlos und zugänglich wie in ihren You-Tube-Videos, wo selbst der Krieg als eine touristische Sensation dargestellt wurde, eine Abfolge von schnell geschnittenen Explosionen und Gewaltszenen im Wechsel mit langen Schwenks über weite Landschaften, all das unterlegt mit Musik?"
Er mietet sich ein Zimmer in einem kleinen Gasthaus, klebt buchstäblich am Handy, der einzigen Verbindung zu seinen Mittelsmännern, aber auch zur Welt, aus der er kommt, vertreibt sich die Zeit mit Wanderungen durch eine karge, unwirtliche Landschaft, von der ihm schon seit Vater erzählt hat. Er rutscht über Schotterwege am Rande von Schluchten, wird von wilden Hunden verfolgt und trifft auf Menschen, die in armseligen Hütten leben, „dunkle Gemäuer mit hözernen Fensterläden.”
„Es war, als wären Steine und Sträucher, Bergkuppen, Senken, Felskanten und sogar der über das Land fegende Regen Spuren von ihr, diesem Mädchen, bei dem es ihm kaum gelang, es als junge Frau zu sehen ..."
Gefangen im Kalifat
Ein Bote schickt Fotos über's Handy, auf denen angeblich Naima zu sehen ist, verschleiert bis auf den schmalen Augenschlitz. Später kommen Audiobotschaften, in denen sie von ihrem Leben im Kalifat erzählt, zunehmend dramatischer und angstvoller im Ton, als stehe eine Katastrophe bevor. Murad zweifelt, weder die Stimme, noch die Augen lassen wirklich erkennen, dass es seine Tochter ist.
„Ich bin jetzt bei der Hisba. Das ist so etwas wie eine Polizei, die darauf achtet, dass die Regeln eingehalten werden. ... Unsere Aufgabe besteht darin, mit einem Bus in der Stadt herumzufahren und Leute zu beobachten. .. Frauen tragen ihr Kopftuch nicht weit genug in die Stirn gezogen, oder ihr Niqab sitzt zu tief."
Murads Warten auf konkrete Informationen bewegt sich zwischen Verzweiflung und Hoffnung, er fragt nach dem Warum, empfand er doch die Freiheit im Westen als größtes Geschenk - wie sein Vater, der nie bereut hat, als Migrant nach Deutschland gekommen zu sein. Vielleicht hätte er Naima mehr über sein Herkunftsland erzählen, sie öfter nach ihren Träumen und Sehnsüchten fragen sollen. Aber er wollte einfach nicht „der überwachende Vater sein, eine Rolle, die zu spielen man von Leuten wie ihm im Westen förmlich erwartete."
Emotional heimatlos
In diesem Roman passiert nur wenig, ein paar Ausflüge markieren die jahrelangen Konflikte in dieser Region - in einem Militärstützpunkt, wo Murad den Kommandanten trifft, in einer Höhle, in der die Skelette ganzer Familien liegen – Zeugnisse des Völkermords an den Armeniern. Sherko Fatah schickt Murad immer wieder in die Einsamkeit der lebensfeindlichen Landschaft, läßt ihn in inneren Monologen, die eine zunehmende Dynamik bekommen, um die kulturellen Unterschiede zwischen Westen und arabischer Welt kreisen, um seine Schuldgefühle als Vater, seine gescheiterte Ehe, seine Hilflosigkeit der Tochter gegenüber. Dieses dichte Gedankenkarussel über die Nöte und Widersprüche der Menschen, die sich zwischen den Kulturen bewegen und emotional heimatlos bleiben, macht den Roman zu einer außerordentlich spannenden und immer wieder beklemmend aktuellen Lektüre – mit einem völlig unerwarteten Schluß. (Christiane Schwalbe)
Sherko Fatah *1964 in Ost-Berlin, Sohn eines irakischen Kurden und einer Deutschen, seit 1975 in West-Berlin, Studium Philosophie und Kunstgeschichte, freier Schriftsteller
Sherko Fatah "Der große Wunsch"
Roman, Luchterhand Verlag 2023, 384 Seiten, 25 Euro
eBook 18,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Sherko Fatah
"Der letzte Ort"