Isabel Fargo Cole
Die grüne Grenze
"Wie klingen die Geschichtsbücher, deren Geheimschrift man nicht entziffern kann?" Vielleicht ein wenig so wie dieser erste Roman der Schriftstellerin und Übersetzerin Isabel Fargo Cole, der sich so schlafwandlerisch sicher und zugleich traumverloren zwischen den Zeiten im Leben des Schriftstellers Thomas Grünberg bewegt.
Kleine Welt
1973 zieht die Bildhauerin Editha mit ihm ins Sperrgebiet an der Grenze, ins Haus ihrer Mutter, eine frühere Ausflugsgaststätte zwischen Sorge und Elend, kleinen Orten im Harz. Ihre Tochter Eli kommt hier zur Welt, Thomas versucht, einen historischen Roman zu schreiben und hofft auf einen Neuanfang. Die großen Wälder, "seit Anbeginn der Welt bestehend und durch die Jahrhunderte nicht vergehend" (Plinius) faszinieren ihn, die Sagen und Geschichten ziehen ihn in ihren Bann. Auch aus der Perspektive des Kindes wird die kleine Welt nahe der Grenze betrachtet.
Die Autorin findet eine reiche, phantasievolle Sprache, mit der sie ungewöhnliche, schön mäandernde Schneisen in die Gedankenwelten ihrer Protagonisten schlägt. Die Politik des Landes DDR sickert nur spärlich in die scheinbare Idylle ein, durch Briefe von Thomas‘ Lektor, durch die Kinder, die 'Krieg' oder 'Banden und Vopos' spielen, und durch erzwungene Stellungnahmen zur Biermann-Ausbürgerung, nur scheinbar weit weg.
Bilder der Vergangenheit
Ganz allmählich erst begreift man, wie sehr Thomas sich mit seiner Tochter in eine Wunschwelt verstrickt und verirrt hat und den Weg zurück antreten muss.
"Was wüsste man zu sagen, wenn man alles sagen dürfte? Wie denn das Hier und Jetzt beschreiben? Das Abseits beschreiben, das Nirgendwo, das Nichts? Das doch grün und geregelt wuchert? Es kommt ganz sicher nicht darauf an, wo der Schlagbaum stand."
Bevor sich die Familie 1980 nach Berlin aufmacht, um zu klären, woher Thomas, das Findelkind, stammt und ob er jüdischer Herkunft ist, blättert die Autorin seine Kindheit auf: Von einem russischen Offizier in einer Kammer mit doppeltem Boden gefunden, wuchs er als Foma bei seinem Ziehvater auf, bis er ins Heim kam und später von kommunistischen Heimkehrern aus dem russischen Exil adoptiert wurde. Wie sich seine Erinnerungen durch Furcht oder Erfahrung verrätseln, ist kunstvoll aufgebaut, und im Zentrum steht immer Lisa, das wilde Mädchen, das von Samojeden abstammt und ihn als Kind zum Spielen in den Wald lockte. Bis ihm die deutsche Sprache Halt und eine neue Fassade gibt:
"Er öffnete sich weit, um mehr aufzunehmen als die anderen. Wie ein leeres Gefäß. Er lernte schneller als sie, und verstand schneller, dass es nicht nur ums lernen ging. Sondern ums sein. Ums 'sein wie'."
Dass er anders ist, anders als etwa die wortkargen, staatstreuen Adoptiveltern oder auch die FDJ, lässt sich Thomas in diesen Jahren nicht anmerken, und die Armee und später das Studium der Germanistik und Slawistik schließlich bieten ihm die Möglichkeit, die Geschichten, die ihn bedrängen, zu erzählen.
Untrennbar verbunden
Doch 1968 wird in der CSSR der politische Frühling zerschlagen, und Thomas verliert seine Freundin Lena, seine große Liebe aus der Kindheit, die er am sowjetischen Ehrenmal wiedertraf, als er sein Buch über seinen russischen Retter zu schreiben begann. Hier erst verknüpft die Autorin sein Schicksal mit dem Edithas, und erst auf ihrer Reise zurück nach Berlin, nach sieben Jahren, wird erkennbar, welche Verletzungen und Verluste sich anreicherten und unterschwellig weiter wucherten.
"Sein Vorwärtsdrang hatte sich erschöpft, so natürlich, als wäre er angekommen. Bei sich nämlich. Bei der Erkenntnis: man drang nicht einmal zur Grenze vor. Ob sie im Wald unterging, ob sie schon an der nächsten Kreuzung die Stadt durchtrennte - es war gleichgültig. Er war jetzt schon 'nah dran' und war es schon immer gewesen."
Einen Neuanfang konnte es nicht geben, jedenfalls nicht im Sperrgebiet nahe der Grenze zwischen zwei Ländern, deren Geschichte in diesem Roman untrennbar verbunden bleibt.
Gewebe von Geschichten
Wie in einem Pentiment, in dem ältere Schichten immer wieder übermalt werden, tauchen Bilder auf, die überlagert waren, und auch die Menschen, die fortgingen, nach Russland oder in den Westen, spielen in diesem Gewebe von Geschichten ihre Rolle.
"Wer gegangen, was verschwunden ist, ist doch nur verzogen, lebt in einer unbekannten Straße weiter. Wer aus der einen Stadt geht, findet sich in der anderen wieder. Das Einzige, was verschwindet, ist die Wärme der Berührung: Es bleiben Bahnen, Wege, Straßen, die sich im Unendlichen kreuzen."
Isabel Fargo Cole spielt in ihrem ersten Roman sehr souverän mit der Idee, dass Realität immer auch ihr Gegenteil beinhalten kann, und ihre Personen suchen nach Antworten, die es nicht wirklich gibt. Ähnlich wie in der Literatur Wolfgang Hilbigs, die sie ins Englische übersetzte, ist auch ihr Personal auf der Suche nach Halt, doch in unklaren Erinnerungen gibt es nur die Möglichkeit kreiselnder Bewegung, und diesen Prozess mit all seinen Geistern der Vergangenheit gibt ihr Roman vielschichtig und faszinierend wieder.
(Lore Kleinert)
Isabel Fargo Cole, *1973 in Illinois/USA, aufgewachsen in New York, lebt seit 1995 als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in Berlin
Isabel Fargo Cole "Die grüne Grenze"
Roman, Edition Nautilus 2017, 496 Seiten, 26 Euro
eBook 19,99 Euro