DEUTSCHER BUCHPREIS 2017
Robert Menasse
Die Hauptstadt
Ein angstvolles Schwein rennt durch Brüssels Mitte, und alle, die es sehen, werden in Robert Menasses Roman zu Spielern, um ihre je eigenen Interessen oder auch um Europas Werte. Ein fulminanter Beginn, aus dem Robert Menasse seine Handlungsfäden gewinnt und zu einem höchst kunstvollen und überraschend beweglichen Mosaik verwebt.
Absurdes Projekt
Da trifft vieles aufeinander: Fenia Xenopoulou, genannt Xeno, ist Leiterin der Direktion C in der Generaldirektion für Kultur und setzt alles daran, diese unwichtigste aller Abteilungen der Europäischen Kommission wieder zu verlassen. Aber:
"Wer im Apparat der Europäischen Kommission Karriere machen wollte, musste Mobilité beweisen. Wer die Bereitschaft dazu nicht demonstrierte und ein Angebot, den Aufgabenbereich zu wechseln, ausschlug, war weg vom Fenster."
Das 'Big Jubilee Project', mit dem die Kommission ihre Gründung vor 50 Jahren feiern will, soll das Image dieser Institution aufpolieren und sie aus der Defensive bringen – und vor allem den Karrieren der Beteiligten zugutekommen. Robert Menasse entwirft die immer absurderen Ausformungen, die das Projekt annimmt, als ausgerechnet die Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden ins Zentrum bürokratischer Planung gerückt werden sollen, bis es schließlich zum Scheitern verurteilt wird.
Kampf um Würde und Erinnerung
Gleichzeitig versucht Kommissar Brunfaut, einen Mord aufzuklären, der plötzlich zur Sache der Geheimdienste erklärt wird, während sich der Auftragsmörder in den polnischen Schoß der katholischen Kirche zurückzieht. Und einer der letzten Überlebenden aus Auschwitz, David de Vriend, kämpft, nachdem er ins Altersheim übersiedelte, um die Reste seiner Erinnerung und seiner Würde, während Professor Alois Erhart, dessen Vater im Krieg Juden ermordete, in seinem Referat vor den Teilnehmern eines Think Tanks zur europäischen Einigung Auschwitz als Fanal für die künftige Politik Europas beschwört und feststellt, dass das niemanden mehr interessiert. Sie alle sind miteinander auf subtile Weise verbunden, durch Europas Geschichte, durch das Versagen der Europäischen Union, nationale Sonderinteressen zu überwinden, durch ihren Ehrgeiz, Dinge voranzubringen oder auch den Wunsch, sich zu behaupten und so etwas wie Wahrheit zu erfassen.
Ein Schwein im Mittelpunkt
Je nach Gemengelage entwickelt Menasse dabei große Komik, wenn er seine Personen immer wieder in die Nähe des Strauchelns oder Stolperns führt, dem sie dann mit den aberwitzigsten Kapriolen zu entgehen suchen. Wenn etwa Xeno auf Romolo Strozzi trifft, den Kabinettschef des Kommissionspräsidenten, merkt sie kaum, wie sehr sie vorgeführt und ins Abseits gestellt wird, obwohl sie sich immer genauestens auf jede Situation vorbereitet.
"Xeno konnte ihm nicht in die Parade fahren, weil sie nicht einmal wusste, was eine Parade ist. Sie hatte keine Vorstellung davon, wie fechten einen Mann prägen kann…Das Umgehen der klaren Absicht des anderen, das Ausweichen und Antäuschen, der Aufbau der Finten, Kreisfinte, Stoßfinte, Hiebfinte, und dann der Treffer, nach einem plötzlichen, unerwarteten Ausfall. Und ehe sich der andere versieht, ist alles vorbei, man schüttelt sich die Hand, mit dem Ausdruck des Respekts und größter Ehrerbietung."
Menasse hat die Finten und Finessen im Umgang der Brüsseler Bürokraten genau beobachtet und weiß, wie sehr sie auch auf uralten Abgrenzungsmechanismen und verleugneten Klassenschranken beruhen. Während das Schwein weiter für Beunruhigung und Medienrummel sorgt, erfährt man einiges über das Chaos, das konkurrierende Behörden zum Beispiel im Handel mit Schweinefleisch anrichten, ohne zu einer gemeinsamen Politik zu finden.
Menschen mit Geschichte
Vor allem aber sind die Akteure in diesem klugen und aufklärerischen Roman allesamt keine Charaktermasken oder Thesenillustratoren, sondern Menschen mit Geschichte und Widersprüchen, denen der Autor Würde noch in den absurdesten Umständen verleiht, indem er sie ernst nimmt. Und nicht alle sind eitle Karrieristen und Heuchler – Robert Menasse, der in Brüssel gewohnt und die Arbeit am gemeinsamen Europa umfassend analysiert hat, ist überzeugt, dass das große Vorhaben trotz allem alternativlos ist. Der islamistische Anschlag vom 22. März 2016, dem in Brüssel 32 Menschen zum Opfer fielen, unterstreicht das auf grausame Weise.
(Lore Kleinert)
Robert Menasse, *1954 in Wien und dort aufgewachsen, Schriftsteller und kulturkritischer Essayist, Dozent für Literatur und Philosophie, u.a. in Sao Paulo/Brasilien, lebt in Wien
Robert Menasse "Die Hauptstadt"
Roman, Suhrkamp 2017, 459 Seiten, 24 Euro
eBook 20,99 Euro, Audio Cds 22,99 Euro