Daniela Krien
Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Es ist Sommer 1990, Heuwendezeit. In einem Dorf nahe der ehemals deutsch-deutschen Grenze wohnt Maria zusammen mit Johannes im Brendelhof. Sie ist zu ihm und seinen Eltern gezogen, weg von den Großeltern und der Mutter, die vom Vater wegen einer anderen Frau verlassen wurde, kaum älter als Maria. Sie ist sechzehn und hat jetzt eine Ersatzfamilie.
Ein anderer Klang
„Es ist ein besonderes Dorf. Weder Krieg noch DDR haben es zerstören können", sagt Frieda, die Großmutter. „Man hatte ferngesehen, die Bilder aus Berlin wie aus einem anderen Land betrachtet, die Frieda hatte gesagt: Dass ich das noch erlebe ..."
Auf Schule hat Maria keine Lust, schwänzt den Unterricht, das Abitur ist ihr egal, lieber arbeitet sie auf dem Hof. Sie liest gern, vor allem Dostojewski, „Die Brüder Karamasoff". Zweimal erst war sie mit Johannes im Westen:
„Demütigend war mir das Einreihen in die Schlange für das Begrüßungsgeld gewesen, erniedrigend die Blicke eines Obst- und Gemüsehändlers, als ich ihn fragte, wie diese und jene Frucht hieße und wie man sie essen müsse. ... Es war uns ins Gesicht geschrieben, woher wir kamen. ... Der Westen hat einen anderen Klang, einen anderen Geruch.
Johannes dagegen kauft eine sündteure Kamera und entdeckt das Fotografieren. Er will Kunst studieren, alles auf Fotos festhalten, was gerade passiert, „Johannes sieht mich nur noch durch die Kamera."
„Westler" zu Besuch
Nicht weit entfernt liegt ein anderer großer Hof, der Hennerhof, allein bewohnt von Henner und seinen Hunden. Henner ist ein attraktiver Mann, aber auch ein Säufer und Frauenheld, ein „Wüterich", sagt Oma Frieda. Als Maria ihm eines Tages begegnet, ist sie fasziniert von ihm, „ein schöner Mann", findet sie. Von seinem schweren Schicksal weiß sie nichts. Henner ist mehr als doppelt so alt wie Maria und wird für sie zur Obsession. Eine Liebesbeziehung beginnt, die bestimmt ist von ungezügelter Sexualität und Brutalität, Leidenschaft und Zärtlichkeit. Sie treffen sich immer häufiger, mal holt er sie zum Ausreiten ab oder sie täuscht einen Besuch bei der Mutter vor:
„Er ist vierzig, ich bin sechzehn. Thorsten Henner und Maria Bergmann. Es war keine Vergewaltigung, obwohl alles danach aussieht. Doch nun herrsche ich über ihn. Aber einer wie Henner lässt sich nicht von einer Sechzehnjährigen beherrschen."
Als die „Westler" zu Besuch kommen, dreht sich alles um sie. Der Bruder von Johannes hatte einen Ausreiseantrag gestellt, wurde verhaftet und später freigekauft. Große Aufregung auf dem Hof, niemand achtet auf Maria: „Er kommt mir gerade zur rechten Zeit, dieser Besuch. Er hilft mir, mein Geheimnis zu bewahren." Aber zum Geheimnis kommen zunehmend auch Schuldgefühle. Die Angst, entdeckt zu werden, wächst.
Die Welt verändert sich
Es ist Daniela Kriens Erstlingsroman, parallel zum gleichnamigen Film neu herausgegeben. Sie erzählt ruhig und genau, mit feinem Blick auf die Zwischentöne, was den Menschen in der DDR passierte, wie sie sich auf dem Land eine gewisse Autonomie erhalten und in einer relativ heilen Welt leben konnten. Maria verweigerte die Jugendweihe und musste nicht ganz freiwillig sechs Wochen in die „Pionierrepublik”. Und Henner saß im Knast wegen seines Kontakts zu Oppositionellen. Daniela Krien verknüpft die Wendezeit mit der Geschichte der obsessiven Beziehung, findet eine einfache, manchmal fast karge Sprache, die die kindliche Naivität Marias abbildet. Während sich draußen die Welt verändert, träumt sie von einem gemeinsamen Leben mit Henner – bis der Traum ein jähes und schockierendes Ende findet. Der unaufgeregte Tonfall passt auch zu den Leuten im Dorf, da werden nicht viel Worte gemacht, man schweigt lieber über Vergangenes. Weitgehend abgeschottet von westlichen Begehrlichkeiten, aber schon mit Träumen von einer besseren Welt reagiert Johannes' Vater mit Sorge:
„Die können uns doch nicht gleich ihr ganzes System überstülpen. Das muss langsam angepasst werden, sonst geht hier bald alles drunter und drüber.... Wir können nicht holterdipolter in Monaten das schaffen, was die drüben in Jahrzehnten entwickelt haben."
Die Geschichte hat ihm Recht gegeben.
(Christiane Schwalbe)
Daniela Krien, *1975 in Mecklenburg-Vorpommern, Kulturwissenschaftlerin, Drehbuchautorin, lebt in Leipzig
Daniela Krien "Irgendwann werden wir uns alles erzählen"
Roman. Diogenes 2023, Erstausgabe 2011 im Graf-Verlag, 272 Seiten, 25 Euro
eBook 21,99 Euro
Weitere Buchtipps zu Daniela Krien
"Die Liebe im Ernstfall"
"Muldental"