Ulrike Draesner
Die Verwandelten
Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2023
Wie sieht es aus, das weibliche Gesicht des Krieges? Wie wird das Leben nach Zerstörung und Verlusten weitergelebt? Ulrike Draesner weiß, dass dieses Erleben die Ausdrucksmöglichkeiten Traumatisierter oft übersteigt und sie verstummen lässt. Sie will „das Schweigen hören“, damit Verstummte ihre Stimmen wiederfinden und erheben können.
Lücken in der Erinnerung
Im dritten Teil ihres großen Roman-Triptychons sind wiederum alle Figuren verbunden, durch feine Fäden verborgener Gewalterfahrungen, an denen entlang die Lebenden sich in die Vergangenheit tasten können. Die Rechtsanwältin Kinga Schücking, „Wiederberufseinsteigerin auf Spätmutterbasis“, die ein Mädchen adoptiert hat, erbt von ihrer Mutter Alissa eine Wohnung in Warschau.
„Auf dem Türschild stehe, so das Testament, nur unser Nachname. Es passe also wie von selbst, hatte Alissa geschrieben. Das war falsch, nichts passte ‚automatisch‘. Mein Selbst veränderte sich durch ihren Tod; es war, als drehte es sich, mir schwindelte.“
Alles dreht sich, und nichts passt - sie erfährt, dass ihre Mutter 1943 als ‚Kind Gerhild‘, arisch, an SS-Eltern übergeben wurde. Die Tochter wusste nicht mehr, als dass die Mutter ein Kriegskind war. Im Lebensbornheim der SS geboren, liegen Alissas Wurzeln in Schlesien, tief verborgen und vergessen.
„Über dem, was ich werden sollte, bildete sich eine Kruste. An manchen Stellen taute sie später weg, an anderen wurde sie dicker und vereiste. Unter diesem Eis liege ich, dort schlafe ich seit über siebzig Jahren in mir.“
In Breslau stößt Alissa, das verschwundene Kind Gerhild, auf Spuren ihrer Herkunft. Bis in ihre Träume stehlen sich Fetzen des Erlebten, ohne doch ein schlüssiges Bild zu ergeben. Die Lücken in der Erinnerung, die vielfach überschriebenen, oft gehörten oder immer nur geahnten Geschichten lassen sich nicht mehr zu einem Ganzen zusammenfügen. Ulrike Draesner gelingt es in ihrer unnachahmlichen Sprache, die Härte und ebenso die Poesie der Träume, Fragmente und Selbsterkundungen zu erfassen und zu etwas Neuem umzugestalten.
Verschwiegener Schmerz
In ihrem Roman erschafft sie ein weit gespanntes Netz durch ihre Familiengeschichten miteinander verknüpfter Frauen, deren oft verschwiegenem Schmerz sie nachspürt. Ihre Fragment-Gedichte vor jedem Kapitel beleuchten den Weg der Frauen zudem auf ganz eigene Weise, denn Ulrike Draesner ist zugleich Lyrikerin. Kinga teilt die Gewissheit, mit den Eltern nicht wirklich verbunden zu sein, mit ihrer polnischen Kusine Doro, die nach Deutschland gezogen war.
„Wir teilten die Erfahrung, sowohl von der Tiefe der Zeit wie jeder des Raumes abgeschnitten worden zu sein zugunsten eines Fleckchens, das genügen musste. Es war Zuhause genannt worden. Nur dass, verborgen hinter seinen Wänden, ein Planet schwebte. Er zog uns an, beulte unsere Gedanken und Gefühle zu sich hin aus.“
Ein Planet des Unbekannten, einer Herkunft oder Heimat, die es nie gab – und die dennoch Phantomschmerz auslöst. Wie groß die traumatische Wirkung auf die Nachkriegskinder war, ist inzwischen zumindest thematisiert und untersucht worden, und Draesner greift diese Erkenntnisse auf. Etwa wenn Alissa kurz vor ihren Tod damit hadert, wie sehr die Enge und Verschwiegenheit ihrer Adoptiveltern auf sie abgefärbt hat, und wie wenig andere verstanden,
„dass Distanz die Voraussetzung dafür war, überhaupt den Mund zu öffnen. Es war die Arbeit eines ganzen Lebens: dass ich Abstand halten konnte. Dass ich nicht ins Becken fiel. Und es schmerzte mich, dass mein Gegenüber Gefühligkeit mit Echtheit verwechselte.“
Verborgene Erschütterungen
Der Tod ist für die Autorin keine Schranke des Verstehens, und mitunter muss man sich angesichts des Stimmenreichtums dieses Romans wieder der familiären Bezüge vergewissern: Auch das Schicksal der Stiefmutter Gerhild lernen wir kennen, ebenso Else und Reni, Frau und Tochter des Breslauer Theaterdirektors Marolf, und wir erleben mit, wie sich die Frauen aus Kingas Vergangenheit verwandeln mussten, um zu überleben, in Polen, Deutschland, Schlesien.
„Dass die Welt in so zahlreiche Facetten zersplittert ist, will mir an manchen Tagen als Rettung erscheinen. Niemand kann mich zu einer lückenlosen Person zusammensetzen, wenn ich es selbst nicht tue. Ich bin zufrieden mit meinem Muschelleben. Sich schließen, etwas verbergen, gerollt werden…Der Schwerpunkt meines Lebens, zu dem ich zurückkehre und aus dem ich mich erkläre, liegt vor der Zeit meiner Kinder und jenseits ihres Horizonts.“
Einen großen, von Gewalt, Vertreibung und Verschweigen gezeichneten Kosmos über Ländergrenzen hinweg beschwört die Autorin in ihrem Roman und scheut sich dabei nicht, ihn hartnäckig bis in die letzten Winkel zu hinterfragen. Zugleich hüllt ihre außergewöhnliche sprachliche Magie die Verletzten und Verlorenen wie mit Schutzmänteln ein und gibt ihnen verlorenen Raum zurück, als Geschenk der Sprache selbst. Indem sie Leerstellen mit Poesie füllt, Worte sogar für das Verstummen findet, wird auch die Kraft beschworen, die Menschen überleben lässt. Wie sehr Ängste verborgene Erschütterungen in die kaum durchschaubaren Erbgeflechte einschreiben, ist Draesners großes Thema auch in diesem dritten Band ihrer Trilogie. Das Endmotto ihres Romans las sie bei Siegmund Freud: „Wenn jemand spricht, wird es hell.“
(Lore Kleinert)
Ulrike Draesner, *1962 in München, Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, Autorin von Romanen, Erzählungen, Gedichten und Essays, mehrfach ausgezeichnet, lebt in Berlin und Leipzig
Ulrike Draesner "Die Verwandelten"
Roman, Penguin Verlag 2023, 608 Seiten, 26 Euro
eBook 21,99 Euro
Weitere Buchtipps
Weitere Buchtipps zu Ulrike Draesner
"Schwitters"
"Kanalschwimmer"
"Sieben Sprünge vom Rand der Welt"