Ulrike Draesner
Sieben Sprünge vom Rand der Welt
Die Angst "im Herzen des dunklen Kontinents Mensch" – sie ist es, deren Ursprung und Ausprägung Ulrike Draesner über mehrere Generationen hinweg erforscht, und von ihr lässt sie sich leiten.
Fluchtbewegungen
Was liegt näher, als von Fluchtbewegungen zu erzählen, zu erkunden, was sie in den Menschen auslösten, die ihnen ausgeliefert waren? Was ist erloschen auf diesen Wegen, was formte sich um zu charakteristischen Eigenschaften, und für welche Dauer hat es Bestand?
"Sein Inneres war weiß bis auf ein paar nackte Flecken Erde. Weiß wie beschneit, sanft gewellt, aber auch versteckt. Ein Puppenland, nicht ausgeformt, nicht richtig gediehen" - ein kurzer Moment zwischen der Tochter und ihrem alten Vater, Affenforscher beide.
Schatten der Vergangenheit
Ulrike Draesner spannt einen großen Bogen, von der Vertreibung dieser deutschen Familie aus Schlesien ins neue Leben in Bayern bis zum Schicksal einer Familie, die aus der Ukraine nach Wroclaw zwangsumgesiedelt wurde. Wenn das frühere Leben unter dem Schutt zerstörter Städte verborgen bleibt, wirft es lange Schatten in die Gegenwart auch der Kinder und Enkel. Die Autorin entwirft in ihrem Roman einen Chor von Stimmen, der Zugang zu inneren Welten schafft, ohne auf gradlinige Verständigung aus zu sein.
Zugang zur Seele finden
Der 83jährige Eustachius Grolmann, der als 14jähriger Mutter und Bruder nach Westen bringen sollte und im späteren Leben seine Erfüllung in der Erforschung von Primaten fand, kann Tochter und Enkelin nur auf Umwegen Zugänge zu seiner Seele öffnen. In der Begegnung mit dem Psychologen Boris, der dem alten Mann näher kommt, wird die Tochter Simone mit Studien vertraut, die sich mit der Übernahme von Erinnerungen und Gefühlen traumatisierter Menschen durch ihre Nachkommen beschäftigen. Mit ihr und ihrer Tochter können die Leser des Romans die Spuren von Gewalt und Schmerz in die Geschichte zurückverfolgen.
Kaskaden der Klage
In der Perspektive der damals Jungen, ihrer Mütter und Väter, ihrer Kinder und Enkel kommen die Erinnerungen unmittelbar zur Sprache, und die Autorin formt diese Sprache zu großartigen Texten, mitunter Prosagedichten, rhythmisiert sie zu Kaskaden der Klage, denn sie ist sich bewusst, wie sehr Vertreibung die Verbindung zur Gegenwart löst und an ihre Stelle die Erinnerung setzt: Ulrike Draesner weiß um die "zerbrechliche innere Welt der Vertriebenen, eine Puppenhausstube, die im Versteckten existiert und mit zäher, unheimlicher Kraft über Jahre und Jahrzehnte gegen die einströmende Außenwelt gedrückt hatte".
Im Meer der Erinnerungen
Niemals wurde in den Familien über die Flucht geredet, es reichte, sie erlebt zu haben, und die Sehnsucht nach dem früheren Leben gerann zu wortlosen Bildern. Halka, als junges Mädchen mit ihren Eltern aus Lemberg nach Breslau vertrieben und später die Mutter des Psychologen Boris, beschreibt in einem der eindrucksvollsten Kapitel, wie ihre Mutter im "gläsernen Meer der Erinnerung" strecken bleibt und wie fremd ihr selbst das neue Leben ist:
"Breslau, zerbeulter halbgoldener Topf. Unsere aus dem Osten herbeigeretteten Vorkriegsdinge, die postdeutschen Alltagsgegenstände, diverser Kriegsabfall und die schubweise ausgegebenen sowjetischen Waren lagen bunt durcheinander, ohne sich zu mischen…Wiewohl wir das Deutsche sahen, sollten wir so leben, als sähen wir nichts".
Niemals angekommen
Und Lilly Grolmann, die Mutter des Wissenschaftlers Eustachius, die aus Oels bei Breslau nach Bayern floh, stellt fest: "Seit mehr als zehn Jahren waren wir da, und kamen immer noch an, kamen an, kamen an, trafen nie ein, langten nie hin, setzten uns nicht." Ihr Mann Hannes, zweimal Soldat in beiden großen Kriegen, verstummt ganz und gar, wird zum "Nachtschattengewächs" mit verschwiegenem Krieger und Jäger im Körper.
Auch Halkas Enkelin ist auf der Suche nach Fundstücken und Fragmenten einer untergegangenen, verlorenen Welt, und wenn sie zwischen den Avataren der Computerspiele agiert, liebt sie es, "nichts als ein Stoffwechsel zu sein, im Nirgendwo über Tastenkombinationen und Klicke gekrümmt, die Augen auf Dschungel gerichtet, Scyscraperreste, abgewrackte Autos, und von kleinsten Rettungen zu träumen."
Großes Abenteuer
Von dem, was mitgegeben wurde, ist der Zugang zum eigenen Erleben bestimmt, daran lässt Ulrike Draesner keinen Zweifel, ohne jedoch allzu schlüssige Kausalitäten zu konstruieren. Das Geflecht der Erzählung ist offen angelegt, eine zarte, vielfarbig vernetzte Textur, die mitunter mit allzu vielen Bezügen zur Primatenforschung überfrachtet wird. Das beeinträchtigt das große Abenteuer, zu dem dieses Buch einlädt, jedoch nicht: das Aufspüren der Erschütterungen, die die Geschichte in den Menschen einschreibt.
(Lore Kleinert)
Ulrike Draesner *1962 in München, Schriftstellerin, lebt in Berlin
Ulrike Draesner "Sieben Sprünge vom Rand der Welt"
Luchterhand 2014, 560 Seiten, 21,99 Euro,
eBook 17,99 Euro
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