Ulrike Draesner
Schwitters
"Kunst handelt nicht von ihrem Künstler. Sie handelt nicht von sich. Nicht einmal von ihrem Gegenstand. Sie erzeugt ihn."
Ein berührbarer Mann
Ulrike Draesners Kunst ist dieser Erkenntnis, die sie ihrem Schwitters gewährt, verpflichtet: Ihr Roman erfindet den Künstler und die Menschen um ihn herum neu, bietet die Möglichkeit, durch die Zeit zu reisen, ein Leben zu erkunden, das zu unserer Geschichte gehört, auch wenn der Künstler fast schon vergessen scheint: Ein Leben zwischen allen Stühlen, im Exil. Als er Hannover, sein Zuhause und seinen Merzbau, eine begehbare Skulptur über drei Etagen, 1937 verließ, war Kurt Schwitters 49 Jahre alt und fand mit seinem Sohn Ernst Unterschlupf in Norwegen. Helma, seine großzügige Frau seit einundzwanzig Jahren, blieb zurück, schickte Geld, versuchte, das Werk des avantgardistischen Dada-Künstlers zu bewahren, bis sie vereinsamt starb. Als eine Freundin viel später Helmas Partei ergreift, rührt ihn das an, denn Ulrike Draesners Geschöpf Schwitters ist ein berührbarer Mann.
"Jemand muss die Frauen verteidigen. Gerade gegen jemanden wie ihn. Er erscheint und verschwindet, er ist eine Hundesonne, einer, der spiegelt, der ein zweites Auge an den Himmel malt. Sein Denken ist das eine, Handeln das andere, das Ganze ist der Dichter des Anna-Blume-Gedichts, der es mit dem Blumendichter Baudelaire hält: Das Recht, sich zu widersprechen, sollte zu den Menschenrechten zählen."
Vergnügliche Seitenblicke
So berührbar wie in seiner Kunst, den Assemblagen und Collagen und vor allem den Merzbauten, die er immer wieder neu erschafft, lange bevor die Installationskunst und die PopArt ihn als Vorreiter erkannten, so widersprüchlich und dem Widerspruch verpflichtet entfaltet sich sein zweites Leben in der Emigration, als ihn niemand mehr kennt. Nach dem norwegischen Intermezzo flüchtet er mit seinem Sohn mit dem letzten Schiff nach England, ist über ein Jahr interniert, bis er schließlich in London 1944 seine geliebte "Wantee", Edith Thomas, kennenlernt. Ulrike Draesner jongliert souverän mit den unzähligen Facetten dieses Lebens und seiner Kunst und fügt sie zu leuchtenden Sprach-Kunst-Bildern zusammen. Die Perspektiven der Ehefrau, des Sohnes, der Geliebten steuern eine besondere Spannung bei, die dem, was Schwitters erschafft und sich neu erschließt, entspricht, aber auch widerspricht und oft vergnügliche Seitenblicke erlaubt, denn eine tragische Figur will er nicht werden.
System von Höhlen
Bis zu seinem Tod 1948 im Lake District hält ihn rastlose künstlerische Arbeit, schließlich auch am dritten Merzbau, am Leben, mühsam oft. Der Autorin gelingt es, die Räume, in denen er sich bewegt, die realen wie die der Seele, mit Phantasie und reicher, atmender Sprache zum Schwingen zu bringen und Verlorenes zu beschwören – vieles ging in den Jahren des Exils verloren, als entartet vernichtet, und seinen ersten Merzbau in Hannover fraß der Krieg.
"Ein System von Höhlen, in die Höhe gedacht, ein aus Würfeln, Tetraedern, Kuben geometrisch sich auftürmendes Labyrinth mit dramatischem Lichteinfall, Fensterschlitzen, Draperien, Nischen. Ein Labyrinth, in dem kein Wollknäuel half, weil es nicht darauf ankam, zu einem Zentrum vorzudringen oder aus der Skulptur, in die man sich verschluckt fand, herauszutreten."
Der Mann, der lange so sesshaft war, wohl auch, weil er unter epileptischen Attacken litt, muss sich in der Fremde in der Kunst finden und als entwurzelter Mann wiederfinden. Draesner füllt die Leerstellen der äußeren Biografie, die sie akribisch erforscht hat, mit Empathie und sprachlicher Virtuosität. Im englischen Leben kehrt das deutsche Leben in den Nächten mitunter zurück - "Suchgänge, Rufe in die Wüste, Beschwörungen", trügerisch und traurig.
Heitere Liebesgeschichte
Nur ein Roman, der mit der Gattung der Biografie zu spielen vermag, kann diese Zeit so eindringlich zum Leben erwecken, und selten sind die Verwundungen, die das Exil reißt, genauer, scharfsinniger und einfühlsamer nachempfunden und beschrieben worden:
"Seine deutsche Vergangenheit benahm sich übel, erst tat sie klein und ihm schön und bettelte ihn an, dann pumpte sie sich auf zu einem ganzen Planeten. Der hatte Gravitation. Frühere Leben, von denen man abgerissen wurde, starben nicht, frühere Leben wurden verschüttet, erstickt und überdauerten allem zum Trotz; irgendwann versuchten sie, sich unter der neuen Existenz, die sie begraben hatte, hervorzukämpfen …"
Einen Weg zurück findet er nicht mehr, zieht es vor, ohne Furcht und ohne Erinnerung zu leben, was ihm in England leichter erscheint und ab und zu gelingt. Wie aus dem großen, lustvollen Mann, den Wantee 'Jumbo' nennt, nachdem sich die viel jüngere Frau in ihn verliebt hatte, in diesen wenigen gemeinsamen Jahren ein oft kranker und gebrechlicher Mensch, dieses "schwebend vergängliche, nahezu geschlechtslose Wesen" wird, bleibt eingebunden in eine große, heitere Liebesgeschichte: "Er strahlte etwas Weites aus, klar, freudig, intelligent, was es, wenn man ihn erlebte, mehr als leicht machte, an seine Kunst zu glauben", so seine Geliebte, Wantee, an seinem Totenbett. Hellsichtig fand er sie, "seine Brücke, seine Lebensversicherung, sein keineswegs heimlicher Trost", und bleibt ihr treu bis zum Ende, bis er ihr sein englisches Werk vererbt. Wunderbar auch, wie Draesner das Spiel mit den Sprachen, den deutschen und englischen Begriffen, Besonderheiten und Absurditäten zum gemeinsamen, spielerischen Reichtum der beiden mit der Kunst und der rauen, von Hunger und Armut geprägten Realität der Nachkriegsjahre verknüpft.
Neues Gesamtkunstwerk
Pläne und Schneeflocken schmelzen gleichermaßen, wenn man sich annähert, und was den Künstler fasziniert und antreibt, beschreibt Draesner als die Schönheit des Unvollkommenen, die er im Lake District zusammen mit Edith Thomas wieder erobert. Sein neues Gesamtkunstwerk, den letzten Merzbau, der viel später in England geborgen wird, setzt er ausschließlich aus dem zusammen, was er dort aufsammelt, dem Flüchtigen, ebenso aus zufälligen Fundstücken, von den Pflanzen, der Erde, den Schafen, den Menschen. Oder den Steinen, mit denen er arbeitet – "Stein war schlafende Lebendigkeit", und Schwitters ein Künstler, der sie zum Leben erweckte.
"Nicht Dinge nimm wahr, sondern Zwischenräume, nicht Einheiten, sondern flüssige, zitternde Verbindungen."
Dass dieser kunstvolle, reiche und mutige Roman, die 'Nicht-Autobiografie', nicht für den Deutschen Buchpreis 2020 nominiert wurde, bleibt ein Geheimnis der diesjährigen Jury.
(Lore Kleinert)
Ulrike Draesner, *1962 in München, Autorin von Romanen, Erzählungen, Gedichten und Essays, mehrfach ausgezeichnet, lebt in Berlin und Leipzig
Ulrike Draesner "Schwitters"
Roman, Penguin Verlag 2020, 470 Seiten, 25 Euro
eBook 19,99 Euro
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"Kanalschwimmer"
"Sieben Sprünge vom Rand der Welt"