Deniz Ohde
Streulicht
"Ich war nicht schaumgeboren, sondern staubgeboren; rußgeboren, geboren aus dem Kochsalz der Luft, das sich auf die Autodächer legte. Geboren aus dem sauren Gestank der Müllverbrennungsanlage, aus den Flusswiesen und den Bäumen zwischen den Strommasten, aus dem dunklen Wasser, das an die Wackersteine schlug, einem Film aus Stickstoff und Nitrat, nicht Gischt."
Verlust der Hoffnung
Die junge Ich-Erzählerin kommt zur Hochzeit ihrer Freunde an den Ort ihrer Kindheit zurück, wo ihr Vater vierzig Jahre lang Aluminiumbleche in Lauge beizte und ihre türkische Mutter im westdeutschen Arbeiteralltag langsam jede Hoffnung verlor. Sie folgt der Spur ihrer Erinnerungen, an den Dauerstreit zwischen den Eltern, die Sprachlosigkeit des Vaters, die Enge und fehlende Geborgenheit des Kindes, die es als Schülerin allmählich verstummen lässt. Sehr genau und gut beobachtet macht die junge Frau Inventur: Als das begabte Mädchen 1999 ins Gymnasium kommt, ist das Bildungsversprechen der deutschen Gesellschaft, die sich noch keineswegs als Einwanderergesellschaft begriff, endgültig aufgebraucht. Trotz einiger gutwilliger Lehrer, die nicht begreifen, warum das Mädchen schweigt und allmählich "durch die Raster in den Abgrund" fällt.
Streulicht auf Vergessenes
Schonungslos geht die Ich-Erzählerin den Spuren ihrer Verlorenheit und auch dem subtilen Rassismus nach, um zu begreifen, was sie bis ins viel später erkämpfte Studium ans Schweigen fesselt.
"Warum hast du dich nicht gewehrt? Immer verzweifelter wurden ihre Stimmen, immer mehr Fragezeichen reihten sich aneinander, und ich wollte rufen, dass es von vornherein kein Ich gegeben hatte, das sich hätte wehren können, nichts war je von mir ausgegangen, alles ist immer nur auf mich eingefallen, ich habe in einer Grammatik gelebt, in der sich wehren von vornherein nicht vorgesehen war."
Diese ‚Grammatik‘ aller Hindernisse, die das Arbeiterkind blockieren, noch dazu weiblich und mit Migrationshintergrund, buchstabiert Deniz Ohde in den klug komponierten Rückblenden durch, nicht als Vorwurf an die Umstände und ebenso wenig als Klagelied einer Ausgegrenzten. Nicht von ungefähr habe ich mich an Karin Strucks ersten Roman "Klassenliebe" erinnert gefühlt, in dem sie sich vor fast einem halben Jahrhundert in ihre Kindheit zurückschrieb, radikal, schonungslos und sprachmächtig. Deniz Ohde bleibt ebenso dicht, aber weit weniger pathetisch bei ihrer Figur, durchleuchtet ihren Umweg zum Studium in genauer, bildhafter Sprache, über die Abendrealschule, den Job als Putzfrau, den schon Mutter und Großmutter ausübten, die wenigen Ermutigungen – Streulicht fällt auf Übersehenes und Vergessenes.
Kein Platz für Wünsche
In Ohdes erstem Roman macht es in erstaunlicher Deutlichkeit die Scham sichtbar, derer, die sich ausgeschlossen fühlen und nicht einmal genau wissen, warum. Man kann sich sein Erbe nicht aussuchen: Wünsche hatten im Leben ihrer Eltern keinen Platz - der Vater, der tobt, wenn er getrunken hat und wie ein Messi Zeitungen, Konserven, Prospekte hortet, hält die Träume der Tochter für seltsam und anmaßend, während die Mutter all ihre Kraft in ihrem einzigen Ausbruchsversuch bereits verbraucht hatte, bis sie ihre Tochter endgültig zurückließ, "allein auf einer Insel, an die unablässig Zigarettenrauch, Unrat und stumme Trauer anbrandeten." Den Wunsch zu studieren gibt die Ich-Erzählerin dennoch nicht auf: " 'Ich will studieren', ich sagte es wie ein Kind, das vor einem großen, in vielen Farben blinkenden Riesenrad steht und mit in den Nacken gelegten Kopf zu ihm hinaufsieht."
Seelische Verarmung
Ihr Blick auf ihre Jugendfreunde, die den Ort der Kindheit nicht verlassen werden, ist kühl und hart, denn die Autorin weiß, dass ihre Figur nur gewinnen kann, wenn sie sich bewegt, aufbricht, fortgeht, so wie ihre Mutter mit 16 Jahren vor ihrer prügelnden Mutter von der Schwarzmeerküste nach Deutschland flüchtete. Eine Stärke von Ohdes erstem Roman beruht darin, dass die Rückblicke wie Lichtstrahlen sowohl die äußeren Hindernisse bündeln wie auch die korrespondierende seelische Verarmung des jungen Mädchens. Zugleich macht die Autorin deutlich, dass im Rückzug ins Schweigen auch Kraftressourcen verborgen waren – man muss sie nur erkennen.
"Niemand hatte sich je Zeit genommen, den Scheffel ausfindig zu machen, unter dem mein Licht stand; der Scheffel war der Satz selbst, der Scheffel waren die Wände, gegen die nachts die Aschenbecher flogen, der Scheffel war 'Sei still‘'und 'Sprich lauter', zwei Forderungen, die ich gleichzeitig erfüllen sollte. Paradox oder nicht, schlussendlich war es meine eigene Schuld, dass ich ihnen nicht Folge leisten konnte. Ich hatte die Verantwortung für mein Licht zu tragen, ich war es gewesen, die es versteckt hatte unter einem der alten Lampenschirme meines Großvaters."
(Lore Kleinert)
Deniz Ohde, *1988 in Frankfurt am Main, Studium der Germanistik, Schriftstellerin, lebt in Leipzig
Deniz Ohde "Streulicht"
Roman, Suhrkamp Verlag 2020, 284 Seiten, 22 Euro
eBook 18,99 Euro