Ulrike Draesner
Kanalschwimmer
"Die waren verrückt. Die: Seine Frau und ihr Liebhaber. Seine Frau und sein bester Freund. Maude und Silas."
Schwimmend aus der Krise
Mit Anfang sechzig ereilt den Biochemiker Charles eine Lebenskrise, auf die er nicht vorbereitet ist: Seine Frau, die Pianistin Maude traf nach der Rückkehr nach England, nach vielen Jahren im Ausland, den gemeinsamen Jugendfreund Silas wieder und ist nicht bereit, auf ihn zu verzichten. Nach vierzig Jahren Ehe beginnt Charles, sich auf den längsten Schwimmversuch seines Lebens vorzubereiten, die Überquerung des Ärmelkanals, um sich noch einmal zu beweisen. Begleitet wird er vom "Piloten" Brendan, dem Begleiter im Boot, der das Experiment jederzeit abbrechen kann, wenn der Schwimmer in Lebensgefahr gerät, und zwei weiteren Helfern.
"In unregelmäßigen Intervallen zog ein eindrucksvoll weites Sausen über die Meeresfläche wie von einem mächtigen Blasebalg, der sich bewegte, als ob einer im Schlaf milde aufseufzte. Ein Schläfer nicht von Tier- oder Menschenkleinheit. Es war wohl der Kanal selbst dieser Schläfer, gestört von dem auch nachts kaum nachlassenden grausamen Verkehr."
Müll im Kanal
Während Charles sich möglichst gleichmäßig im Wasser vorwärtsbewegt, in der Hoffnung, das Glas seines Lebens zumindest halbvoll wiederzufinden und nicht nur "halbvoll mit Leere", holen ihn die Erinnerungen an das Leben mit Maude und die Zeit davor ein. Ulrike Draesner verbindet die Wahrnehmungsfetzen während seines Selbstversuchs in ausgefeilter, origineller Sprache mit dem, was die Erinnerung hervorspült: 1976 lernten sein Freund Silas und er auf Sylt zwei Schwestern kennen, Abigail und Maude, und nach dem Vorbild der "Wahlverwandtschaften" änderten sich die Konstellationen zwischen ihnen. Erst als Abigail im dritten Sommer auf Sylt tödlich verunglückt, werden Maude und Charles ein Paar, und die Lebenslüge, die damals entstand, dringt durch Charles‘ schwächer werdende Panzerung ins Bewusstsein ein, bruchstückhaft wie die Wahrnehmung des Mülls im Kanal.
"Er war frei. Er konnte sich entscheiden. Der Kanal hatte ihn in einen Zustand gezogen, in dem sich von allem, was ihm begegnete, die Schicht löste, die ihn bislang am Verstehen gehindert hatte…Ihm war, als treibe er in einem Löwenmaul."
Alte Bilder verschwimmen
Draesners Sprache entwickelt einen starken, fast körperlichen Sog, denn während sich der Mann der totalen Erschöpfung entgegen bewegt und mit Hindernissen kämpft, verändern sich auch die Erinnerungen, lösen die alten Bilder sich auf und machen neuen Möglichkeiten oder auch poetischen Verknüpfungen Platz - wie man sie auch aus Ulrike Draesners Gedichten kennt. Diesem Sog vertraut man sich als Leserin gern an, birgt er doch Überraschungen, Herausforderungen, schließlich die Möglichkeit, die Liebe zurückzugewinnen, indem das Verborgene im eigenen Ich zum Anker wird.
"Er schwamm, als wäre er einer der Meergeister, ein mit Restgedanken, Sauerstoff und Empfindungen gefülltes Knochengerüst, das vorsichtig den Kiefer bewegte und sich Musik aus den Beinen riss."
Zwischen Sprache und Schweigen
Im "Kanalschwimmer", für den die Autorin sich intensiv mit den Besonderheiten des Lebens in England und der Faszination der Ärmelkanal-Überquerung auseinandergesetzt hat, ist ihr ein klug konstruierter Roman über das Älterwerden gelungen, der an etliche Aspekte ihres Essays aus 2018 zu diesem Thema anknüpft. In ihrer Frankfurter Poetikvorlesung 2017 schrieb die Autorin, "Sprache und Wasser würden gleichermaßen die Akteure dieser Novelle sein. Akteure sind Energiefelder. Das Wichtigste dieser Felder in Charles’ Fall: Die Grenze zwischen Sprache und Schweigen." Charles muss wirklichem Erschrecken, auch der Panik begegnen, der Tiefe näherkommen, um zu begreifen, wie sehr ihn seine Entscheidungslosigkeit der letzten Monate gefesselt und die Zuneigung zu seiner Frau entstellt hat. Man kann das Ende des Romans unterschiedlich lesen, tröstlich bleibt jedoch die Erkenntnis:
"Wir alle können ein Zuhause gebrauchen."
(Lore Kleinert)
Ulrike Draesner, *1962 in München, Autorin von Romanen, Erzählungen, Gedichten und Essays, mehrfach ausgezeichnet, lebt in Berlin und Leipzig
Ulrike Draesner "Kanalschwimmer"
Roman, Mareverlag 2019, 176 Seiten, 20 Euro
eBook 15,00 Euro
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