Nora Bossong
Schutzzone
Longlist deutscher Buchpreis 2019
Die Liste der UN-Friedensmissionen in Afrika ist lang – ein Zeichen für die Vielzahl von Konflikten, ausgelöst durch willkürliche Handlungen der ehemaligen Kolonialmächte, verschärft durch Stammesfehden und korrupte Herrscher.
Moralischer Anspruch
Mira ist eine von den vielen, die bei der UNO arbeiten und sich immer wieder neu engagieren, obwohl sie genau wissen, wie mühselig die Arbeit vor Ort ist und wie wenig sie ausrichten können.
Als ihre Eltern sich trennten, gaben sie die Tochter zu Freunden. Von Darius, dem Vater der Gastfamilie, hat sie den hohen moralischen Anspruch gelernt, mit dem er als Diplomat durch die Krisengebiete der Welt reiste, meist mit schwierigem Auftrag. Mit Milan, dem acht Jahre älteren Sohn, wird sie später ein Verhältnis haben, auch er ist bei der UNO gelandet, ziemlich desillusioniert. Als sie ihn nach Jahren wieder trifft, leidet er unter den bürokratischen Strukturen, hat seine
"Sehnsucht nach Kriegen nie ganz aufgegeben ... er wünsche natürlich keine Kriege, nur wünsche er sich an Orte, an denen diese Kriege ja dennoch stattfinden, er halte es einfach schwer aus, hier am Schreibtisch die Berichte und Zahlen … abzunicken und weiterzureichen."
Koloniale Verbrechen
Mira sitzt eher selten am Schreibtisch, sie sucht in den Schutzzonen, in denen der Frieden ein dünner Faden ist, der jederzeit reißen kann, nach den Geschichten der Menschen, hat die große Begabung, sie in Interviews zum Sprechen zu bringen. Sie kann zuhören, will ihnen in all dem Chaos von Kriegen und Morden und Flucht und Vertreibung eine Stimme geben, will menschlich bleiben.
"Ich war Davens Assistentin und sollte die Wahrheitskommission in Burundi beaufsichtigen, die Aufarbeitung der Völkermorde in den Jahren 93, 88, 72.
Es gab Erinnerungen.
Es gab Wut.
Es gab Angst.
Es gab die Lebenden und die Toten und die dazwischen.
Es gab die Bezeichnung Hutu und Tutsi, und es gab eine deutsche Vergangenheit.
Es gab die deutschen Kolonialherren, die aus den Tutsi vor über einem Jahrhundert Verbündete gemacht hatten und aus den Hutu Minderwertige."
Für eine bessere Welt
Unrecht, das ist die bittere Erkenntnis, kann keine UN-Kommission ungeschehen machen, sie kann auch Völkermorde nicht sühnen. Aber vielleicht ist es möglich, in dem von Rebellen und Warlords zerrissenen Land wieder eine funktionierende Zivilgesellschaft aufzubauen. Denn wer sich, wie Mira, zumindest anfangs mit Idealismus zu den Zielen der Vereinten Nationen bekennt, der will die Welt ein bisschen besser machen. Auch wenn Illusionen zunehmend schwinden und eigene Heimatlosigkeit der Preis ist:
"Man nennt uns Expats … eine internationale Klasse, zu der nicht nur das Personal der Vereinten Nationen gehört, sondern auch Gesandte der weltweit agierenden Wirtschaftsunternehmen, der Botschaften und die Mitarbeiter der vielen Nichtregierungsorganisationen."
Expats = Expatriates = Expatriierte. Heimatlose, die sich der Gerechtigkeit verschrieben haben, der Versöhnung, dem Frieden, der Wahrheit – so überschreibt die Autorin die großen Kapitel ihres Romans, die unterteilt sind in viele kleine, benannt nach den Stationen ihres Lebens und ihrer Arbeit – Genf, Bujumbura in Burundi, New York, Südkivu im Kongo, Den Haag, Bonn. Irgendwann sind es nicht mehr die moralischen Ansprüche, die diese Expats treiben, irgendwann ist es so etwas wie Routine, die man halbwegs cool zu bewältigen hat, um angesichts vieler erfolgloser Anstrengungen nicht in Resignation oder Zynismus abzudriften:
"Es gab ein Kind, das mit angesehen hatte, wie eine Tutsimiliz seinen Vater ermordete. Das Kind war jetzt Präsident von Burundi. … Es gab Amnestien, aber kein Tribunal, ein Tribunal wollte die Regierung in Burundi nicht, keine Schuldsprüche."
Ambitioniert und beklemmend
Ein kluger, überaus ambitionierter, oft beklemmender und bis in Details genau recherchierter Roman, ohne eine durchgängige Erzählung, an der man sich beim Lesen festhalten und orientieren kann. Die Autorin erzählt - sprachlich virtuos - in vielen miteinander verknüpften und sich ergänzenden privaten und offiziellen Episoden: In Luxussuiten und Hotelpools, auf glamourösen Empfängen, in klimatisierten Sitzungssälen und engen Büros. Sie wechselt dabei immer wieder Zeiten und Orte: Mal sind es die schockierenden Eindrücke von überfüllten Lagern und zerstörten Häusern, mal die zynischen Wahrheiten eines Warlords beim Grillen oder die deprimierenden Einsichten engagierter Mitarbeiter, die von einem Krisengebiet ins nächste geschickt werden. All das fügt sich Stück für Stück zum Gesamtbild einer bedeutenden Organisation und ihrer zahlreichen Bemühungen im Auftrag der Menschenrechte.
"Es gab die UN, die es nicht immer besser machte, aber ohne die es noch schlechter wäre. ... und manchmal, nur manchmal, überkommt mich die Angst, das falsche Leben zu leben, als würde es das richtige irgendwo geben ..."
Ein Blick hinter die Fassaden von Institution und Menschen. Der Einzelne kann in diesem Apparat nur wenig ausrichten und versucht es doch immer wieder. Eine keineswegs leichte, aber lohnende Lektüre.
(Christiane Schwalbe)
Nora Bossong, *1982 in Bremen, schreibt Lyrik, Romane und Essays, mehrfach ausgezeichnet, lebt in Berlin
Nora Bossong "Schutzzone"
Roman, Suhrkamp 2019, 332 Seiten, 24 Euro
eBook 19,99 Euro, Audio-CD 19,99 Euro
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