Nora Bossong
36,9°
36,9 Grad ist die normale Körpertemperatur eines Menschen. In Nora Bossongs viertem Roman wird sie zum Zeichen der Krankheit, denn wenn sie ansteigt, droht Gefahr. Zwei Geschichten werden miteinander kontrastiert und verknüpft: die des Kommunistenführers und Vordenkers der italienischen Linken Antonio Gramsci, der unter Mussolini fast elf Jahre gefangen gehalten wurde und schon seit seiner Kindheit kränklich war.
Lebendige Briefe
Seine berühmten "Gefängnishefte" entstanden unter heftigen Fieberschüben, bis zu seinem Tode 1937. Die Autorin hat sich von der "Kombination aus seinem mutigen Denken, seiner ungewöhnlichen Biographie und den zärtlichen, lebendigen Briefen aus dem Gefängnis, die auch immer wieder tiefste Verzweiflung zeigen" (Interview Ottfried), inspirieren lassen.
Zweifel an der Liebe
Bossong erzählt einfühlsam und phantasievoll von seiner Liebe zu Julia Schoch, mit der er zwei Kinder hatte, und vom Familiengefüge mit ihren Schwestern, von denen ihm vor allem Tanja nah war. Seine Zweifel an dieser Liebe plagen ihn, denn in Zeiten des aufkommenden Faschismus sollte die bedingungslose Hingabe eines Kommunisten ausschließlich seiner Sache dienen. Und die Autorin beschreibt eindrucksvoll, wie die Welt dieses inspirierten, großen Denkers der Linken, entmutigt und gequält durch Krankheit und Kerker, immer enger wird:
"Tanja … ist alles, was noch an ihn heranreicht außer den Gedanken aus den Büchern und den Briefen von Julia, eine Welt, die ihm immer abstrakter wird, weil er sie nicht mehr mit Erfahrungen anreichern kann, weil sie bleiben muss, was sie ist, eine Buchstabenlandschaft, eine Sprachwüste, eine abstrakte Taubheit."
Letzte Chancen
Der Wissenschaftler Anton Stöver, der sich in Rom auf die Spur eines möglicherweise noch existierenden letzten Hefts Gramscis setzt und von seiner kommunistischen Bremer Mutter nach ihm benannt wurde, ist allenfalls von Gefühlstaubheit geplagt. Seine Ehe ist längst gescheitert, die Professur in Göttingen nicht erobert worden, und alle anderen sind schuld. Wie der 46jährige mit seiner Frau, seinen Geliebten und seiner Geschichte umgeht, erscheint zunächst wie die Karikatur eines hohlköpfigen, gescheiterten Karrieristen, der seiner letzten Chance nachjagt:
"Jetzt, nachdem ich ein Leben lang neben Gramsci hergetrottet war, er mich verdeckt hatte, getreten, in die kleine Form gezwungen, jetzt war es an ihm, dass er mir einmal, ein einziges Mal zumindest beistand. Hinter mir lagen Wochen und Monate voller Vorwürfe und Verweigerungen, voller Irrsinn und Getöse, ach was, Jahre waren es am Ende gewesen, und es rauschte in meinen Ohren."
Seltsame Phantasien
Dass er nicht allein zur Besinnung kommen wird, ahnt er, doch Nora Bossong lässt ihn sich in fruchtlose Erinnerungen an seine Jugend und seltsame Phantasien über Begegnungen mit Frauen verstricken, fleischgewordene "kleine Form" der unangenehmsten Sorte Mann. Leider klebt die Autorin dann doch zu sehr am Klischee, und dieser Erzählstrang nervt zwischen den Passagen, in denen es um Gramsci geht, allzu sehr. Die Frage, wieweit die Liebe zu einem einzelnen Menschen zu Lasten des Einsatzes für die ganze Menschheit geht, wird im Blick auf Gramsci subtil durchbuchstabiert, während der banale und selbstherrliche Blick des Nachfahren auf seine Geschichte und Gegenwart umso mehr langweilt. Das allerdings geht zu Lasten des ganzen Romans.
(Lore Kleinert)
Nora Bossong *1982 in Bremen, deutsche Schriftstellerin
Nora Bossong "36,9°"
Roman, Hanser Verlag 2015, 320 Seiten, 19,90 Euro
eBook, 15,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Nora Bossong
"Schutzzone"