Robert Seethaler
Der letzte Satz
"Den Kopf gesenkt, den Körper in eine warme Wolldecke gewickelt, saß Gustav Mahler auf dem eigens für ihn abgetrennten Teil des Sonnendecks der Amerika und wartete auf den Schiffsjungen."
Zurück nach Europa
Der nämlich kümmert sich um ihn, bringt ihm eine Kanne warmen Tee, versucht ihn zu überzeugen, seinen ungemütlichen Platz doch zu verlassen und zu Frau und Tochter zu gehen, die beim Frühstück sitzen. Der berühmte Komponist reist 1911 von New York zurück nach Europa, vor sich das Meer, "grau und träge im Morgenlicht". Mahler will an Deck bleiben, auf einer Kiste aus Stahl sitzend, das dumpfe, gleichmäßige Hämmern der Schiffsmotoren unter sich spürend.
Höllenhund am Pult
Er hängt Erinnerungen nach, folgt seinen Gedanken zurück zu Maria, seiner erstgeborenen Tochter, die in diesem Jahr neun geworden wäre - sie starb an Scharlach. Er will die Gedanken an den Tod verdrängen, vor allem an seinen eigenen. Denn es ist seine letzte Reise, Mahler ist schwer krank und weiß, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Daher der Rückblick auf wichtige Stationen seines Dirigentenlebens. Er erinnert sich an seine Wut
"auf das Orchester, auf die Holzköpfe von der Administration, auf diese ganze faule, verlogene und hinterfotzige Bande der Wiener Hofoper, deren Direktor er zehn Jahre lang gewesen war."
Und die er komplett umgekrempelt hat – Sängerinnen und Sänger mussten lernen, sich beim Singen zu bewegen und zu spielen, der Orchesterraum wurde tiefer gelegt, aus starrer Darbietung wird ein Gesamtkunstwerk, das alle Traditionen hinter sich ließ. Danach wieder New York – im Savoy wird er begeistert empfangen,
"Hello! Great to have you here! ... Der Meister aus Europa ist wieder da!" Er galt als "Höllenhund am Pult" - "Die Musiker hatten Respekt vor ihm und eine Heidenangst."
Große Liebe
Er denkt zurück an Paris, an die Sitzungen beim berühmten Rodin, die er nur widerwillig über sich ergehen ließ, weil Almas Stiefvater
"auf die blödsinnige Idee gekommen war, zu Mahlers Fünfzigstem eine Büste bei Auguste Rodin in Auftrag zu geben."
Für ihn ist Rodin "ein Verrückter ... ein Bauer. Grob, schmutzig und laut." Und immer wieder denkt er an Alma, seine große Liebe, eine resolute Frau, die sein Leben zu managen weiß:
"Sie ist mein Glück. Ich weiß nicht, ob ich ihr Glück bin, jedenfalls ist sie meins. Ich weiß nicht, ob ich sie verdient habe. Du kannst Dir die Liebe nicht verdienen."
Er hat Alma längst verloren, an den “Baumeister” Walter Gropius, den sie nach seinem Tod heiraten wird. Ihretwegen hat er sich mit Sigmund Freud getroffen, einen kurzen Nachmittag lang haben sie nur über Einsamkeit geredet.
Poetische Bilder
Kleine und große Episoden, herausgegriffen aus dem Leben eines genialen Künstlers, geschrieben im für Seethaler typisch reduzierten Ton, detailgenau, schnörkellos, melancholisch, atmosphärisch dicht, zwischendurch auch komisch und immer wieder poetisch in Bildern und Stimmungen. Allerdings lernen wir Mahler nur als Dirigenten kennen, nicht als Komponisten, erfahren auch nichts über seine Musik, nach der sich der Schiffsjunge wissbegierig erkundigt, aber nur die Antwort bekommt, über Musik könne man nicht sprechen. Wir erleben Mahler als traurigen, keineswegs alten Mann, krank an Körper und Seele, der sich “nie gesund gefühlt” und stets versucht hat, “sich an die Zumutungen seines Körpers zu gewöhnen.” Rückblickend sortiert er sein Leben und findet “Ich sollte noch ein bisschen bleiben” - das ist Mahlers letzter Satz in diesem schmalen Buch, das man schnell gelesen hat und etwas enttäuscht beiseite legt – schön, aber allzu verkürzt erzählt.
(Christiane Schwalbe)
Robert Seethaler, *1966 in Wien, Schriftsteller und Drehbuchautor, lebt in Wien und Berlin
Robert Seethaler "Der letzte Satz"
Roman, Hanser Berlin 2020, 128 Seiten, 19 Euro
eBook 14,99 Euro, AudioCD 14,27 Euro
Weitere Buchtipps zu Robert Seethaler
"Das Café ohne Namen"
"Das Feld"
"Ein ganzes Leben"