Robert Seethaler
Das Feld
Es sind "Figuren aus dem Herzen geschnitzt" sagt Seethaler über seine Protagonisten, die er in "Das Feld" versammelt. Sie alle leben im fiktiven Paulstadt, einer Kleinstadt mitten in der Provinz, und in ihren Geschichten spiegelt sich alles, was ihr Leben lang wichtig war.
Bei gutem Wetter
Sie bilden eine Art Toten-Chor, denn das "Feld" ist der Paulstädter Friedhof, den ein alter Mann, der nicht mehr gut sehen, aber hören kann, jeden Tag besucht, wenn das Wetter gut ist:
"Er war überzeugt davon, die Toten reden zu hören. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber er nahm ihre Stimmen ebenso deutlich wahr wie das Vogelgezwitscher und das Summen der Insekten. … Er malte sich aus, wie es wäre, wenn jede der Stimmen noch einmal Gelegenheit bekäme, gehört zu werden. ... Er dachte, dass der Mensch vielleicht erst dann endgültig über sein Leben urteilen konnte, wenn er sein Sterben hinter sich gebracht hatte."
Brennende Kirche
Hanna Heim hat es hinter sich und ihre wichtigste Erinnerung ist, dass ihr Mann stets ihre Hand gehalten hat, ein Leben lang: Diese kleine, verkrüppelte Hand, auf die sie ihn gleich beim ersten Kennenlernen hingewiesen hat. Oder Gerd Ingerland, in dessen Erinnerung die Welt im Regen versank. Oder der verrückte Pfarrer Hoberg, der seine Kirche anzündete und darin verbrannte. Ihm begegnen wir nicht nur aus seiner eigenen Perspektive. Denn die eine oder andere Geschichte verknüpft Seethaler miteinander. Und Pfarrer Hoberg kaufte gern beim arabischen Gemüsehändler Navid als Bakri, der als Kind mit seinen Eltern nach Paulstadt kam und den Gemüseladen seines Vaters übernahm. Der Muslim und der Christ streiten lautstark:
"Ich konnte nicht verstehen, warum Gott die Wahrheit und die Wahrhaftigkeit sein sollte, wenn doch seine Schöpfung so unvollkommen war. … Man kann vieles über Menschen lernen, wenn man ihnen dabei zusieht, wie sie ihr Obst und Gemüse aussuchten. Ich beobachtete sie, wenn sie mit der Fingerkuppe einen Pfirsich berührten, als wäre es die Haut eines Geliebten. …. wie sie den Salat in Zeitungspapier wickelten, liebevoll wie ein Baby ins Schlaftuch."
Tod mit hundertfünf
29 Bürgern und Bürgerinnen gibt Seethaler das Wort, lässt sie nach dem Tod vom Leben erzählen: Der korrupte Bürgermeister errichtet trotz Warnung auf untauglichem Grund ein Freizeitzentrum, dessen gläserne Halle zusammenbricht und drei Menschen unter sich begräbt. Die älteste Paulstädterin stirbt mit hundertfünf:
"Ich bin einfach aus dem Leben gefallen. Genauso wie man ins Leben hineinfällt, so fällt man auch wieder heraus … Erst war ich ein Kind. Dann eine Dame. Dann wieder ein Kind. … Alle, die ich gekannt habe, habe ich überlebt. Und die, die ich nicht überlebt habe, habe ich nicht gekannt. Jetzt weiß ich nicht einmal mehr, ob das traurig ist. Ich glaube, mein Humor ist hin."
Hinter den berührenden, amüsanten oder melancholischen Geschichten werden Verzweiflung und Leid, Angst und Hoffnung, Mut und Resignation sichtbar, Gefühle, die mal mehr, mal weniger gelebt werden konnten. Diese Toten sind weise, lebenserfahren und immer noch ein bisschen eitel, wenn sie den Rückblick wagen, den Rückblick auf ein Leben, das Martin bei einem Autounfall verliert, Peter ins schwarze, stille Wasser führt, weil er am Grund die Sonne finden wird, und Susan eine tiefe Freundschaft im Altenheim beschert:
"Henriette starb dreiundneunzig Tage nach meiner Ankunft und sechsundzwanzig vor mir. Sie war siebenundsechzig Tage lang meine Freundin. Sie war die beste Freundin, die ich in meinem Leben hatte."
Jetzt bin ich Welt
Blumenfrau, Postbote, Trinker, Automechaniker, Redakteur, Schuhverkäuferin - am Ende kennen wir Paulstadts Menschen und ihr kleines, großes Schicksal. Seethaler erzählt subtil und einfühlsam von skurrilen, wunderlichen und ganz normalen Typen, deren Geschichten sich ganz unspektakulär zu einem großen Bild zusammenfügen - mit den Worten der Hundertfünfjährigen: "Erst war ich Mensch, jetzt bin ich Welt."
(Christiane Schwalbe)
Robert Seethaler, *1966 in Wien, Schriftsteller und Drehbuchautor, lebt in Wien und Berlin
Robert Seethaler "Das Feld"
Roman, Hanser Berlin 2018, 240 Seiten, 22 Euro
eBook 16,99 Euro
Weitere Buchtipps zu Robert Seethaler
"Das Café ohne Namen"
"Der letzte Satz"
"Ein ganzes Leben"