Angelika Klüssendorf
Jahre später
Alkohol, Gewalt, Demütigung, Armut und Einsamkeit – das Mädchen April, das sich als Jugendliche selbst diesen Namen gab, nach einem Song von Deep Purple, hat in ihrer Kindheit nichts erlebt, was sie zu positiven Gefühlen befähigt.
Leben ohne Liebe
Nicht im Elternhaus, in dem sie dem Jähzorn der Mutter und den Alkohol-und Gewaltexzessen des Vaters ausgeliefert war, nicht im Kinderheim in der DDR, wo sie Repressalien jeder Art erlebt, auch nicht im Jugendheim. Die DDR geht nicht zimperlich um mit Menschen wie sie es (geworden) ist. Aber sie findet eine Nische, liest alles, was ihr in die Finger kommt – in den Geschichten geht sie auf, im eigenen Schreiben findet sie Kraft.
Sich selbst Vater und Mutter sein
"Jahre später" hat sich diese Frau ein eigenes Leben erkämpft, zur Autorin entwickelt, die kurz vor dem Mauerfall mit Mann und Sohn ausreisen darf. Schon in der DDR gab sie sogenannte Untergrundmagazine heraus, inzwischen sitzt sie an ihrem ersten Roman. Als sie in Hamburg in einer großen Galerie auf der Reeperbahn Texte aus ihrer Untergrundmappe vorliest, kostet sie das große Überwindung:
"Sie ist die Jüngste unter den Vortragenden, es kostet sie Mühe, sich ihre Schüchternheit nicht anmerken zu lassen … Nachdem April gelesen hat, fragt ein älterer Herr, warum sie, hübsch und jung, so schreckliche Sachen schreibe."
Aprils quälende Lebensgeschichte bis zum Alter von 30 Jahren hat Angelika Klüssendorf in "Das Mädchen" und "April" erzählt – autobiografisch, wie sie selbst erklärte, aber auch fiktiv zugespitzt. ("Jahre später" kann man gut auch ohne Kenntnis dieser beiden Romane lesen)
April trägt eine schwere Last mit sich herum, die desolaten Jahre der Kindheit und Jugend im feindseligen Elternhaus und in streng reglementierten sozialistischen Heimen haben tiefe Spuren gegraben, sitzen tief in der Seele. Ihr Sohn ist gerade elf geworden, sie ist froh, wenn er seinen Vater besucht, von dem sie sich getrennt hat. Sie jobbt in der Kneipe, zieht gern um die Häuser und hadert damit, keine gute Mutter zu sein. Wie denn auch: Sie musste sich doch stets selbst Vater und Mutter sein.
Falsche Stadt
In dieser Situation der Unsicherheit und des Zweifels lernt sie Ludwig kennen, einen Chirurgen, ein zutiefst von sich selbst überzeugter Mann, auch er ein Einzelgänger, süchtig nach Anerkennung. Mit ihm beginnt eine schwierige Beziehung - quälend, intensiv, heiter, zwischen Leidenschaft und Kampf pendelnd, obsessiv, vertraut, übermütig:
"Ludwig schwitzt, trägt die falschen Klamotten, hat einen merkwürdigen Gang, trotzdem fühlt sie sich mit ihm auf eine Weise eingebunden ins Leben wie selten zuvor. Sie sind wie Kinder, denken sich komische Geschichten aus, rufen mit verstellten Stimmen fremde Leute an, versuchen in der Markthalle einen Hummer aus dem Bassin zu klauen."
Sie heiraten, sie zieht zu ihm nach Hamburg, fühlt sich in seinen Kreisen eher unwohl, minderwertig. Sie bekommt einen zweiten Sohn, dem sie eine bessere Mutter zu sein versucht. Sie vermisst Berlin, wo
"eine Frau auf dem Fahrrad eine Frau auf dem Fahrrad ist, in Hamburg wird die Frau sofort taxiert".
Mit Geistern am Küchentisch
Sie spricht mit "Geistern", die ihre Freunde werden und mit ihr am Küchentisch sitzen. Aber April wünscht sich andere Geister:
Den Geist ihrer Großmutter? Eine zarte, nachgiebige Frau, die nach Mottenpulver roch. … Lange Zeit hatte April versucht, eine Art Liebe für sie zu empfinden, hängte das Foto von ihr in jeder Wohnung auf, bis ihr klar wurde, dass sie das Gefühl für ihre Großmutter nur benutzte, um sich überhaupt einem Menschen nahe zu fühlen."
Auch die Nähe zu Ludwig ist trügerisch, "Du wirst schon sehen, wie das ist, wenn mein Glanz nicht mehr auf Dich abstrahlt." April reicht die Scheidung ein, die Trennung wird zur elenden Abrechnung.
Suche nach Liebe
Was Angelika Klüssendorf hier als Ehedrama schildert, nüchtern, lakonisch und ungemein präzise in der Beschreibung der Charaktere, der zutiefst verletzten Seele Aprils und ihrer Suche nach sich selbst und ihren Gefühlen, das geht unter die Haut, ist beeindruckend und schonungslos erzählt, dabei niemals unbarmherzig, sondern psychologisch nachvollziehbar und einfühlsam. Ihr unstillbarer Hunger nach Liebe und Anerkennung, dessen Ursachen "in den versteckten Winkeln ihrer Kindheit" die Autorin immer wieder andeutet, durchzieht das Leben dieser willensstarken Frau, das dann doch in einer großen Hoffnung gipfelt: April wird einen Roman schreiben und der beginnt mit dem ersten Satz von "Das Mädchen": Das wird mein erster Satz sein, denkt sie: Scheiße fliegt durch die Luft."
(Christiane Schwalbe)
Angelika Klüssendorf, *1958 in Ahrensburg/Schleswig-Holstein, aufgewachsen in Leipzig, deutsche Autorin, lebt in Brandenburg
Longlist Deutscher Buchpreis 2018
Angelika Klüssendorf "Jahre später"
Kiepenheuer & Witsch, 160 Seiten, 17 Euro
eBook 14.99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Angelika Klüssendorf
"Risse"