Thorsten Palzhoff
Nebentage
"Gedankenkrebs. Kennst Du das? Wenn das Bett keinen Ausstieg mehr hat und das Licht zu hell, die Zeit zu lang und die Lunte zu kurz ist." Nach einem Autounfall in einem östlichen Land findet sich ein junger Mann im Gefängnis wieder und beginnt, seine Lebensbeichte aufzuschreiben.
Sich neu erfinden
Er richtet sie an seine Frau, für deren Vater er undurchsichtige Geschäfte erledigt und der ihm, Tobias Voss aus der untergegangenen DDR, eine neue Chance gab, seine Vergangenheit zu verlassen. Doch diese Vergangenheit ist nicht die des Tobias Voss, denn er kam als Felix Fehling kurz nach der Wende nach Leipzig, ein Neunzehnjähriger, der sein Leben in der westfälischen Kleinstadt hinter sich lassen will. Das tiefrote Geburtsmal in Form einer Mondsichel auf seinem Rücken erinnert ihn an den Tod des Zwillingsbruders bei seiner Geburt und wird ihm zum Wegweiser in die Doppelexistenz, den Traum vom anderen Leben, den Wunsch, sich neu zu erfinden.
"Was ich meine Mutter schon immer einmal fragen wollte: ob sie schon vor oder erst nach meiner Geburt das Lachen verlernt hat. Jedenfalls sind das, was sie ihre Lachfalten nennt, nur die Krähenfüße einer Rabenmutter, rief ich, einer Mutter, deren Fürsorge an Bösartigkeit grenzt.“
Große Liebe
In Nica, die mit sechs Jahren mit ihrer Mutter nach Hamburg zog und nie mehr etwas vom Schauspielervater in Leipzig hörte, findet er nicht nur die große Liebe, sondern auch eine Gefährtin der Suche, nach ihrem Vater, dem sie als Kind bunte Kinderpostkarten schickte, die nie Antworten bekamen - Flaschenpost in eine zurückgelassene Kindheit in der DDR. Felix findet in ihrer Suche die Sehnsucht nach seiner eigenen Bedeutung, nach Veränderung seines bisher ereignislosen Lebens, ein Simplizissimus der Wendejahre, der sich in der Camouflage der Neuerfindung hoffnungslos verliert.
Thorsten Palzhoff bettet die Bruchstücke ihrer beider Geschichte in ein Land, eine Stadt ein, wo scheinbar nichts mehr Bestand hat. Die chaotische Zeit nach der Wende, im Frühjahr 1990, als noch Ausnahmezustand herrschte, schildert er mit verblüffender Kenntnis der Topographie der Stadt, der wilden, anarchischen Freiheitsimpulse vieler Beteiligter und einem genauen Blick auf die verminten Gelände zweier aufeinander prallender Systeme.
Ungewisse Identität
In der Erinnerung des Gefangenen entstehen leuchtende Bilder freigesetzter Lebensintensität, auf die ein westfälischer Junge nicht zu hoffen gewagt hatte, und zugleich dringt der Mann mit der ungewissen Identität tief in die Realität der Repression in der DDR vor. Er beschwört die Qual von Nicas Vater, der, wie er herausfand, im DDR-Knast gebrochen wurde:
"Die Augusthitze. Seinen Durst, den er am Waschbecken zu stillen versucht. Das im Abfluss gurgelnde Liedchen: Papier, Papier, dich falten wir! Er säuft die Stimmen seiner Tochter und Frau, bis er keine Luft mehr bekommt. Er fragt sich, ob er vom Wasser oder vom Schweiß so durchnässt ist. Papier, Papier, dich schneiden wir! Jemand, der seine Zellennummer als Namen trägt, brüllt gegen das Lied in seinem Kopf. ... Ohne dass jemand ihn hört, darf sich der Gefangene den kalten Entzug von der Seele toben."
Lebensspuren
Palzhoff lässt seinen unvollkommenen Helden schuldig werden und räumt ihm zugleich die Chance ein, sich neu zu erfinden, wohl wissend, wie fragwürdig diese Abnabelung vom alten Leben sein wird. Gemeinsam mit Nica entdeckt er die Lebensspuren des Tobias Voss, dessen Ausweis ihm erlaubt, in die fremde Identität dessen zu schlüpfen, der ihm so ähnlich sieht. Als er dem Vater seiner späteren Frau begegnet, riskiert er den Sprung aus der emotionalen Überforderung, die die Liebe und die Zeit ihm nicht ersparen, und wird zu Voss:
"Statt meiner saß eine bloße Hülle, ein von meinem Restbewusstsein in Gang gehaltener, antwortspuckender Automat mit deinem Vater am Tisch. Vielleicht, dass das Reden nach und nach meinen Atem beruhigte, die verhechelte Lebenszeit begrenzte, das Karussell verlangsamte, auf dem ich saß."
Wie viel er verliert und welchen Preis er zahlt, ist die Leerstelle, um die die Beichte des Mannes kreist, der sich neu erfunden hat. Thorsten Palzhoff hat zehn Jahre daran gearbeitet, seinen Stoff in die richtige Form zu bringen und den Ton zu treffen, der diese Geschichte um Identität und Traum zur Gegenwart hin öffnet. Wunderbar, dass er sich von der Überfülle recherchierten Materials nicht hat entmutigen lassen, sondern es kunstvoll um den heißen Kern dieser Doppelgänger-Existenz angeordnet hat.
(Lore Kleinert)
Thorsten Palzhoff, *1974 in Wickede/Westfalen, deutscher Schriftsteller, lebt in Berlin
Thorsten Palzhoff "Nebentage"
Roman, S. Fischer 2018, 336 Seiten 22 Euro
eBook 18,99 Euro