Karen Duve
Anständig essen
Ein Selbstversuch
Ein besserer Mensch werden – das wollen wir alle gern. Aber muss es ausgerechnet beim Essen anfangen? Ja, sagt Karen Duve, und legt ihre Grillhähnchenpfanne zurück in die Kühltruhe des Supermarktes. 2.99 Euro kostet sie, ein Spottpreis, den wir einfach so hinnehmen. Auch Karen Duve.
Qualfleisch auf dem Teller
Bis ihre neue Mitbewohnerin ihr angesichts ihres Lieblingsgerichts vorwirft, Qualfleisch zu essen - in Anspielung auf das, was in der Massentierhaltung passiert. Duve liebt Tiere, lebt mit Hund und Katzen, Pferd und Maulesel auf einem Hof in der Umgebung von Berlin. Also beschließt sie, anständig zu essen.
Konsequenter Selbstversuch
Sie beginnt mit Bio-Produkten, einer vergleichsweise leichten Übung, abgesehen davon, dass es zwar an jeder Ecke einen Supermarkt, nicht aber einen Bioladen gibt. Einkaufen – erst recht in ländlichen Regionen – gestaltet sich deshalb durchaus mühsam. Nach der Bio-Phase kommt die vegetarische, dann die vegane und schließlich die frutarische. Letztere ist die wohl schwerste, darf man doch nur Früchte und Gemüse essen, die die Natur freiwillig hergibt. Auch andere Produkte von Tieren – Leder, Wolle – sind verboten.
Auf Kosten des Geschmacks
Das neue Leben "anständig" einzurichten, kostet Zeit, Energie und oft auch einen (geliebten) Geschmack. Die Zutatenliste jedes Produkts wird von Duve aufwendig überprüft, notfalls ein anderer Laden gesucht, um im Sinne des Selbstversuchs einzukaufen und zu essen. "Anständig" essen verlangt strenge Disziplin und hat – wie Duve anfangs erlebt - einen aufwendigen und oft frustrierenden Vorlauf.
Ohne erhobenen Zeigefinger
Was Karen Duve uns nach dem einem Jahr serviert, ist eine ebenso politische wie literarische Reportage über einen erkenntnisreichen Selbstversuch, gänzlich undogmatisch und ohne erhobenen Zeigefinger aufgezeichnet, häufig sehr unterhaltsam, aber stellenweise auch schockierend zu lesen. Auf ihrem Weg in ein anständiges Lebens recherchiert und erlebt die Autorin Horrorgeschichten – über Schweinemast und Legehennen, Bolzenschuß und Elektrozangen, zerhäckselte Hähnchenküken und nach ihren Kälbern schreiende Milchkühe. Bei einem Ausflug in einen Hähnchenmaststall rettet sie Rudi – das Huhn lebt heute gesund und glücklich auf ihrem Hof.
Gefahren für das Klima
Ethisch korrekte und damit gewaltfreie (vegane) Ernährung – so Duves Fazit - funktioniert weder im herkömmlichen Supermarkt noch mit Massentierhaltung. Mehr noch: Unser Klima wird durch die extensive industrielle Fleischproduktion erheblich beeinflusst, produziert soviel schädliche Treibhausgase wie der gesamte Verkehr auf der Schiene, in der Luft und zur See. Kaum zu glauben, aber wahr und von Wissenschaftlern des Weltklimarats beziffert.
Ersatz schmeckt nicht immer
Grünkernburger und Erbsbrei, Tofu und Weizeneiweiß, Sojasahne und Hafermilch – die alternativen Produkte muss sich Duve buchstäblich "erschmecken" – was bei Cola, ihrem Lieblingsgetränk, partout nicht gelingt. Selbst Lakritz muss sie sich verkneifen, weil dabei auch Bienenwachs verarbeitet wird. An Zweifeln und Frustrationen, inneren Konflikten und asketischen Zukunftsvisionen lässt uns die Autorin in einsichtiger, spannender und oft unterhaltsamer Weise teilhaben. "Anständig essen" von Karen Duve belegt die dringliche Notwendigkeit eines Umdenkens in unserem Ernährungsverhalten. Und sie zeigt uns, dass "anständig essen" keine Utopie ist, sondern dass es viele Wege gibt, die zum Ziel führen.
(Christiane Schwalbe)
Karen Duve "Anständig essen" - Ein Selbstversuch
Galiani Verlag Berlin 2010, 335 Seiten, 19,99 Euro
Taschenbuch 9,99 Euro, eBook 9,99 Euro
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