Karen Duve
Fräulein Nettes kurzer Sommer
Annette von Droste-Hülshoff, Freifräulein, lebenslang kränkelnd, vorlaut, widerspenstig, spaziert lieber mit dem Hammer in den Steinbruch, um nach seltenen Mineralien zu suchen, statt sich brav und sittsam mit einer Spitzenstickerei zu beschäftigen, wie es eigentlich ihre Rolle wäre.
Mit wachem Verstand
In ihren adligen Kreisen besucht man sich gern, lädt Künstlerfreunde und Poeten aus Göttingen ein, führt gebildete Gespräche über Kunst und Politik. Zumindest tun das die Männer, Frauen hören zu. Nicht so Nette, gerade mal 23 Jahre alt, die beherzt und klug mitmischt, geistreich widerspricht und viel zu laut redet. Das gehört sich nicht für eine junge Frau ihrer Herkunft.
"Die Schärfe des Verstandes bleibt auf ewig der Vorzug der Männer … Frauen können sich nur von Ferne annähern. ... Nette musste sich die Hand auf den Mund pressen, um nicht zu lachen."
Mit ihrem wachen Verstand, ihrer genauen Beobachtungsgabe und ihrer Klugheit grenzt Nette sich ab von dieser Art Frauenrolle. Sie ist das schwarze Schaf derer von Haxthausen und derer von Hülshoff, alter westfälischer Adelsfamilien.
Opfer einer Intrige
Bei den Frauen stößt sie auf indigniertes Kopfschütteln, bei den Männern erregt sie durchaus Aufmerksamkeit. Heinrich Straube verliebt sich in sie, ein bettelarmer, unansehnlicher und unbeholfener Student, Freund ihres Onkels, der ihn für einen genialen Poeten hält, aber:
"Was für eine Stimme – quäkend, weinerlich. Kein Wunder, dass er den Spitznamen Wimmer hatte. Und dann dieser daumendicke schmutzig-gelbe Flaus, den er trug … er müffelte."
Er interessiert sich brennend für die junge Frau, die Gedichte schreibt und klug redet. Der eher abstoßende Zausel beglückt Nette mit Anerkennung für ihre Arbeit. Die bekommt sie sonst nicht, nur spöttische Kommentare. Das ganze Gegenteil von Straube ist August von Arnswaldt, ein attraktiver junger Mann, mit Manieren, Vermögen und mit viel Bösartigkeit ausgestattet. Auch ihn reizt diese querköpfige, in Liebesdingen so naive Annette, und er lockt sie in eine ausgewachsene Intrige.
Chaos der Gefühle
Arnswaldt hat leichtes Spiel und macht Nette binnen kurzer Zeit in den Augen ihrer Eltern und all' ihrer Onkel, Tanten und Cousinen zu einer unmoralischen Person:
"Ich verstehe nicht, wie diese Herren sich irgendetwas erhoffen konnten ...Straube ist ja nicht nur Protestant, er ist auch noch bürgerlich … aber der unvermischte Adel einer Familie ist nun einmal der Garant für ausgezeichnete Charakterqualitäten."
Aus dem anfänglichem Verliebtsein von "Nettchen", wie die Mutter, "eine Autorität in Anstandsfragen", sie gern nennt, wird ein totales Gefühlschaos und aus den ersten zarten Gefühlen der jungen Frau eine Katastrophe. Die Familie sieht sich in ihrem Urteil bestätigt: Nette ist eine ungehörige junge Frau, unweiblich und "indiskutabel für jeden standesgemäßen Mann":
"Pflegen sie ihre Empfindsamkeit. Aus dem Sitz des Gefühls der Frau im Rückenmark ergibt sich ihr reiches und feines Empfindungsvermögen. Leider hängt damit auch die Unfähigkeit zusammen, konsequent zu handeln und zu abstrahieren.Man kann eben nicht alles haben."
Gesellschaft im Umbruch
Karen Duve hat sehr genau recherchiert, wie das umfangreiche Literaturverzeichnis dokumentiert, und liefert nicht nur Lesern, die Annette von Droste-Hülshoff allein durch die Schullektüre "Judenbuche" kennengelernt haben, das schillernde Panorama einer Gesellschaft im Umbruch und - darin eingebettet – das genaue Porträt einer jungen Frau, die weder besonders hübsch noch sonst von vorteilhaftem Äußeren war, aber umso mehr auszubrechen versuchte aus der für sie vorgesehenen Reglementierung:
"Strickstrumpf, Gebetbuch, vornehme Bescheidenheit und ein angenehmes Äußeres – das waren die unabdingbaren Voraussetzungen, um einen Mann an sich zu binden. Und Nette machte alles falsch, eckte überall an … strickte wie ein Kleinkind."
Biedermeierliche Gemütlichkeit
Duve erzählt lustvoll, unterhaltsam und mit viel Komik: Von männlicher Eitelkeit, von der Überheblichkeit adliger Familien, von politischen Veränderungen, die sich mit Antisemitismus, Radikalisierung und zunehmendem Selbstbewusstsein des Bürgertums ankündigen, und vom Untergang biedermeierlicher Beschaulichkeit. Eingefügt sind einige sachlich-berichtende Kapitel, die von politisch spektakulären Ereignissen dieser Jahre berichten.
Wir lernen die Brüder Grimm kennen und Heinrich Heine, wir leiden mit, wenn die Kutschen über unebene und schlammige Wege holpern, erleben Hauskonzerte mit ausgewählten Gästen und einer Annette, die nicht nur gut Klavier spielen, sondern auch noch singen kann. Karin Duve gelingt es in diesem überaus vergnüglichen Gesellschaftsroman meisterhaft, die Atmosphäre einer vielfältig gebrochenen Zeit einzufangen.
(Christiane Schwalbe)
Karen Duve *1961 in Hamburg, deutsche Autorin, lebt in der Märkischen Schweiz/Brandenburg
Karen Duve "Fräulein Nettes kurzer Sommer"
Roman, Galiani Berlin 2018, 592 Seiten, 25 Euro
eBook 22,99 Euro, AudioCD 16,99 Euro
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