Daniela Krien
Mein drittes Leben
Longlist Deutscher Buchpreis 2024
Wie lange braucht ein Mensch, um nach dem Tod des eigenen Kindes das Leben wieder wertvoll zu finden? Linda braucht vier Jahre. Es ist eine Art Katharsis, die sie durchmacht, innerlich gelähmt, apathisch und hilflos zu Beginn, später verzweifelt und auch wütend. Nach einer überstandenen Krebserkrankung zieht sie sich zurück, will allein sein mit ihrer Trauer und ihren Schuldgefühlen. Auch ihr Mann darf sie nur besuchen.
Leben oder sterben
„Wir waren eine glückliche Familie" - Linda, Richard und Sonja, ihre Tochter. Dazu zwei Kinder aus seiner ersten Ehe. Er ist Maler und arbeitet als Kunstlehrer, sie ist erfolgreiche Kuratorin bei einer Kunststiftung. Ein vergangenes Leben: Die siebzehnjährige Sonja lebt nicht mehr, sie wurde bei einem Verkehrsunfall von einem Lastwagen überfahren. Ein Schicksalsschlag, der Linda buchstäblich in ein anderes Leben geschleudert hat. Ihre Krebserkrankung ist für sie daher folgerichtig.
"Mein Körper hatte seine Widerstandskraft verloren. Die Trauer hatte sich seit über einem Jahr durch meine Zellen gefressen. Sie waren zu schwach geworden. Ein logischer Vorgang."
Nach erfolgreicher Operation hat sie sich in ein tristes Dorf in Sachsen zurückgezogen, lebt dort allein auf einem alten Bauernhof mit Hund und Hühnern, gräbt im Garten, lernt Holz zu hacken, füttert die Tiere, geht spazieren. Richard besucht sie regelmäßig, aber ihr Zustand bleibt unverändert. Die Zahl der Tabletten, die sie täglich schluckt, ist bedenklich. Sie vertreiben weder Bilder noch Erinnerungen, auch nicht Angst und Verzweiflung. „Wenn dein Leben nur im Glück einen Sinn hatte, dann hatte es nie einen Sinn", sagt ihr Mann und hat recht damit. Sie weiß nicht mehr, ob sie leben oder sterben will. Die anhängliche Hündin Kaja und körperliche Arbeit hindern sie daran, sich aufzugeben.
Plötzlich erwachsen
Auch die Menschen im Dorf werden wichtig, die wenigen, zu denen sie Kontakt hat. Vor allem von Natascha und ihrer behinderten Tochter lernt sie viel. Frust und Verbitterung erlebt sie bei denen, die schon ihr ganzes Leben hier verbracht haben, sie sind „chronisch misstrauisch ... zu oft verarscht worden, sagt mein Nachbar Klaus." Sie soll sich zusammenreißen, verordnet ihre Mutter. Die Beziehung der beiden ist belastet von Verletzungen und Erinnerungen an das Leben in der DDR, das beendet war, als sie einen wohlhabenden Banker heiratet und mit Linda zu ihm in den Westen zieht. Die Tochter kam in Sachsen zur Welt, unehelich, die Mutter alleinerziehend, nach der Wende arbeitslos, im Westen auf die ungewohnte Rolle als Mutter und Hausfrau zurückgeworfen.
„Während meine Freundinnen aus der alten sächsischen Heimat ohne Vorwarnung plötzlich erwachsen zu sein hatten, weil sich die Eltern nach dem Zusammenbruch des Systems neu erfinden mussten, machte ich einen Schritt rückwärts in eine Kindheit, die ich als DDR-Schlüsselkind nicht gekannt hatte ...Zu beschäftigt waren sie damit, den Demütigungen und der Entwertung ihrer Lebensleistungen etwas entgegenzusetzen, neue Werte zu schaffen und den Verlust ihrer inneren Heimat zu verarbeiten."
Auch in ihrem Zufluchtsort war das so, da „gab es eine LPG, in der das halbe Dorf gearbeitet hatte ... heute lebt hier keiner mehr von der Landwirtschaft". Ein industriell geführter Agrarbetrieb hat alles übernommen.
Schmerz und Freude
Ein schweres Thema, ungeschönt erzählt, klar und eindringlich, mit viel Empathie und Einfühlungsvermögen, gerade wenn es um die quälenden Wiederholungen geht:
Ich will die Gedanken ausschalten und ins Nichts sinken, doch die Erinnerung springt zurück auf den Anfang, und die merkwürdige Hoffnung, nachträglich einzugreifen und die Geschehnisse in eine andere Richtung zu lenken, lässt mich alle meine Möglichkeiten noch einmal durchleben."
Auch wenn es gar keine Möglichkeiten gab.
Daniela Krien läßt Linda alle Stationen von Einsamkeit, Schmerz und Verzweiflung durchleben, wird weder pathetisch noch rührselig. Sie verknüpft Erinnerungen an die Wendezeit unaufdringlich und leise mit dem persönlichen Rückblick auf glückliche Jahre in Leipzig, Karriere und Erfolg, Familie und Kind. Und sie führt immer wieder zurück zu einem Schmerz, der nicht aufhört, aber mit der Zeit erträglicher wird. Während Richard sich in eine neue Beziehung flüchtet, findet Linda über viele Irr- und Umwege heraus aus der Depression, hinein in einen anderen Alltag, in dem die Trauer leiser und die Freude am Leben größer wird – ein tröstlicher Blick in die Zukunft.
(Christiane Schwalbe)
Daniela Krien, *1975 in Mecklenburg-Vorpommern, Kulturwissenschaftlerin, Drehbuchautorin, lebt in Leipzig
Daniela Krien "Mein drittes Leben"
Roman, Diogenes 2024, 304 Seiten, 26 Euro
eBook 22,99 Euro, Hörbuch 10,95 Euro
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