Elena Fischer
Paradise Garden
Longlist Deutscher Buchpreis 2023
Ihre Mutter nennt sie Billie, nicht Erzsébet, wie ihre Großmutter es bestimmt hat, weil das ein Name aus der Bibel ist. Billie und ihre Mutter leben allein, aber ziemlich glücklich in einer Hochhaussiedlung am Rande der Stadt, im 17. Stock, in einer sehr kleinen Wohnung, die Autobahn gleich nebenan. „Vater unbekannt" steht in Billies Geburtsurkunde.
Meeresrauschen
„Niemand wohnte freiwillig hier, am Stadtrand. Unser Block war der höchste von fünf Wohnblöcken, die im Halbkreis angeordnet eine eigene kleine bunte Stadt bildeten. Jedes Haus war in einer anderen Farbe gestrichen, unseres in einem kraftlosen Gelb."
Keine gute Adresse also, wer hier wohnt, hat bei Bewerbungen schlechte Karten. Billie und ihre Mutter, die als Putzfrau und Kellnerin arbeitet, leben in prekären Verhältnissen, die Wohnung ist klein, das Mobiliar zusammengesucht. „Der Barjob hält uns zwar bei Laune ... aber der Putzjob hält uns am Leben." Von einem Vater wird nicht gesprochen. Am Ende des Monats ist meist Ebbe in der Kasse, und es gibt Nudeln mit Tomatenketchup. Aber was die Haushaltskasse nicht hergibt, Ferien am Meer zum Beispiel, das gleicht die Fantasie der Mutter aus:
„Das Rauschen der Autos war immer da, und mittlerweile hörten wir es kaum noch. Früher hatte mich das Rauschen oft in den Schlaf gewiegt. 'Hey, kannst du das Meer hören?' flüsterte meine Mutter dann.
Manchmal stellen sie auch Liegestühle in den Gang vor der Haustür, mixen sich Cocktails aus Fruchtsaft und setzen sich in die Sonne. „Dann spielten wir Urlaub". Oder sie gehen ins Möbelhaus und probieren Betten aus, wissend, dass sie keins kaufen können.
Erinnerungen
Billie erinnert sich an solche verrückten Sachen im Rückblick, denn: „Meine Mutter starb in diesem Sommer". So lautet der erste Satz im Roman. Es war ein Unfall, die Mutter ist inzwischen beerdigt, und die Großmutter, die Wochen vorher aus Ungarn angereist war, um sich medizinisch behandeln zu lassen, versucht vergeblich, ihre Enkelin zum Leben in Ungarn zu überreden. Denn Billie gibt ihr die Schuld, sie hatte sich ins bis dahin harmonische Leben der beiden gedrängelt, und es es gab immer wieder Streit.
„Vierzehn ist ein beschissenes Alter, um seine Mutter zu verlieren. Die Trauer kommt und geht wie Ebbe und Flut, aber da ist sie immer. ... Niemand bereitet einen darauf vor, mit vierzehn seine Mutter zu verlieren. Es gab kein Schulfach, in dem man lernte, alleine aufzuwachen und ins Bett zu gehen, weil die eigene Mutter nicht mehr lebte."
Als sie in ein Jugendheim kommt und ihr die Haare ausfallen, beschließt sie, ihren Vater zu suchen. Zuhause im Schrank hat sie in einer Kiste mit Papierkram zwar keine Babyfotos von sich entdeckt, aber ein Bild ihrer Mutter, auf dem Schoß ein Baby, über der Schulter der Arm eines Mannes. Dazu ein Umschlag mit Geld und ein verblichener Kassenzettel aus dem Supermarkt, auf dem der Name eines Ortes in Norddeutschlands steht. Den will sie finden. Ein abenteuerlicher Road-Trip beginnt, Billie hat das Autofahren mit 12 von ihrer Mutter gelernt, als ihre Beine „lang genug" waren. Sie setzt sich in den alten, verbeulten Nissan und fährt los. Richtung Nordsee, ihr Notizbuch im Gepäck, in das sie ihre Erlebnisse schreibt. Die mal zu Geschichten werden sollen. Irgendwo da oben im Norden muss ihr Vater leben. Schließlich träumt sie immer wieder vom Meer. Als sie fast angekommen ist und im Schlafsack die salzige Meerluft schnuppert, schreibt sie in ihr Notizbuch:
Hey, Mama, kannst du das Meer hören?”
Großes Lesevergnügen
In diesem mitreißend geschrieben Roman, den man gar nicht wieder aus der Hand legt, geht es nicht nur um Tod und Trauer. Elena Fischer streift mit leichter Hand die Probleme einer Wohlstandsgesellschaft - den Gegensatz zwischen Glück und Trauer, Einsamkeit und Geborgenheit, arm und reich. Den erlebt Billie ganz hautnah bei der Familie ihrer Freundin Lea, die in einem luxuriösen Haus lebt und sich heimlich lustig macht über Billies bescheidene Wohnverhältnisse. Aber auch zu Lea will sie nicht:
„Ich dachte an Urlaube, die Leas Familie machte. Urlaube im Paradies. Urlaube, bei denen man wirklich wegfuhr. Ich dachte an frisch gekochte Abendessen und an Schaumbäder in der großen Badewanne. Ich dachte an den schön geschmückten Weihnachtsbaum ... aber ich konnte nicht. Es war das Mitleid. ... Ich wollte das Mitleid auf keinen Fall.”
Liebevoll und warmherzig beschreibt die Autorin ihre Personen, die Nachbarn im Haus, die Begegnungen unterwegs und natürlich das Verhältnis der drei Frauen aus drei Generationen und zwei Kulturen – das funktioniert so gar nicht, und der offenbar unbändige Freiheitsdrang der Mutter lässt sie sämtliche Konventionen und Regeln über Bord werfen. Sie hat sich weder dem Diktat ihrer eigenen Mutter untergeordnet noch dem eines Mannes – und führt mit Billie ein unabhängiges und zufriedenes Leben – im selbstgewählten „Paradise Garden". So heißt auch der größte Eisbecher, den das Café Venezia zu bieten hat: üppig, kunterbunt, süß und ein großes Vergnügen. Das ist auch dieser außergewöhnliche und wunderbare Debütroman – bis zum überraschenden Schluß.
(Christiane Schwalbe)
Elena Fischer, *1987, Studium Filmwissenschaft, Autorin, war mit "Paradise Garden" auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2023, lebt in Mainz
Elena Fischer "Paradise Garden"
Roman, Diogenes 2023, 352 Seiten, 23 Euro
eBook 19,99 Euro