Sabine Bode
Geschwister im Gegenlicht
Rolf ist Kriegskind, seine Schwester Sonja ist nach dem Krieg geboren. Dass in diesen Generationen die Traumata des Krieges fortleben, sozusagen bis in die Enkelgeneration „vererbt" werden, ist längst wissenschaftlich belegt. Sabine Bode hat darüber erfolgreiche Sachbücher geschrieben.
Distanz
Darin wird deutlich, wie sehr Kinder von Eltern, die einen Krieg erlebt haben, unter ihren traumatischen Erfahrungen leiden. Was oft mit einem unerklärbaren Gefühl oder mit Träumen beginnt, geht mit hartnäckigen Fragen weiter, dem oft ein ebenso hartnäckiges Schweigen und dann schwere Vorwürfe von Seiten der Kinder folgen, wenn Eltern partout nicht über das Erlebte sprechen wollen. Aus einer solchen Familie stammen auch Rolf und Sonja. Sie hat jeden Kontakt mit der Mutter abgebrochen – zu ihrer Zeit ein gesellschaftlicher Tabubruch, wie sie von ihrer Psychologin erfährt, die sie vor vielen Jahren während eines Aufenthalts in der Psychiatrie betreut hat. Auch mit ihrem Bruder, einem Journalisten, spricht sie nur selten, lässt höchstens einen gewissen Smalltalk zu:
„Unser einziger gemeinsamer Nenner ist, dass wir erfolgreich Distanz halten ... Wir sind im selben Elternhaus aufgewachsen und einander doch so fremd wie zwei Aliens, die von völlig unterschiedlichen Planeten stammen."
Gewalt
Rolf meldet sich eines Tages zu einem höchst ungünstigen Zeitpunkt: Sonja hat sich in ein kleines Haus an der Ostsee zurückgezogen, will zu sich selbst finden, sich mit ihrer ganz eigenen Vergangenheit auseinandersetzen. Ihr Bruder, selbst gerade in einer Lebenskrise, kündigt seinen Besuch an, zuammen mit seiner Tochter, die kürzlich von der Schule geflogen ist. Er will seine Schwester dazu überreden, gemeinsam die Nazivergangenheit der Eltern zu ergründen. Sonja zögert, läßt sich aber schließlich doch darauf ein. Die Nichte wird so etwas wie ein Katalysator zwischen beiden, selbst ein schwieriges Kind, das zu Gewalt neigt.
Wir erfahren, dass die Eltern überzeugte Täter waren, die den Nazis blind gefolgt sind, auch bei der Kindererziehung. Die sadistische Mutter hat schon bei kleinsten Vergehen die Tochter in den Keller geschickt und mit dem Rohrstock brutal verprügelt, herrschte auch sonst "wie ein Diktator":
„Die Gewalt unserer Eltern war so erniedrigend und schambesetzt, dass Mutter und Vater sicher sein konnten: Wir würden es niemandem erzählen. Ich brach mein Schweigern erst mit Ende zwanzig in der Klapse. Rolf tat es mit sechzig, in der psychosomatischen Klinik."
Vertrauen
Nach und nach kommen Familiengeheimnisse ans Licht, von denen das Geschwisterpaar noch nicht mal geahnt hat. Dazu gehört die Arbeit der Mutter als NS-Krankenschwester - geschult in nazistischer Rassenkunde und Bevölkerungspolitik, war sie eine Befürworterin der Euthanasie. Ein überzeugter und aktiver Nazi war auch der Vater, ein SS-Mann, der seine Tochter als Kleinkind verhätschelt und später ebenfalls geschlagen hat. Je mehr Fakten Rolf und Sonja über Demütigungen, körperliche und seelische Gewalt in ihrer Kindheit entdecken, desto größer wird ihr Vertrauen zueinander und ermutigt sie, das eigene Schweigen zu durchbrechen. Schließlich kommt auch ans Licht, warum Sonja ein so ungeliebtes und mit gnadenloser Strenge erzogenes Kind war:
„Diese Frau hat dich nur angeschaut, wenn Leute zu Besuch kamen und Fotos gemacht wurden. Du warst für sie die Requisite, die sie für ihre Theaterrolle der liebevollen Mama brauchte."
Spätfolgen
Sabine Bode greift auch mit diesem Roman die seelischen Spätfolgen zweier Weltkriege auf und hält - wie in ihren Sachbüchern - die Erinnerung an Naziideologie und -verbrechen wach. Die Verdrängung der Kriegstraumata, die Lügen und das Schweigen der Eltern und Großeltern, ihre emotionale Kälte – das alles überträgt sich auf nachfolgende Generationen, prägt ihre Kindheit und später auch ihre Beziehungen - innerhalb und außerhalb der Familie. „Geschwister im Gegenlicht" ist dafür ein eindringliches Beispiel und angesichts bedrohlicher rechtsextremistischer und antisemitischer Entwicklungen in unserer Gesellschaft bedrückend aktuell.
(Christiane Schwalbe)
Sabine Bode, *1947, deutsche Journalistin und Autorin, lebt in Köln. Die Autorin hat weitere lesenswerte Sachbücher zum Thema geschrieben: "Die vergessene Generation - Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen" (Piper). Bei Klett-Cotta erschienen sind: "Kriegsenkel - die Erben der vergessenen Generation", "Nachkriegskinder - die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter", "Kriegsspuren - die deutsche Krankheit German Angst".
Sabine Bode "Geschwister im Gegenlicht"
Klett-Cotta 2024, 320 Seiten, 25 Euro
eBook 19,99 Euro