Joachim Meyerhoff
Hamster im hinteren Stromgebiet
Ein Schlaganfall kann auch komische Seiten haben – zumindest, wenn man Joachim Meyerhoff heißt, und schon vier überaus unterhaltsame autobiografische Romane geschrieben hat, die allesamt Bestseller wurden, und mit gerade mal 51 Jahren “vom Schlag getroffen” wird.
Nur ein “Schlagerl”
Aber komisch ist erst mal gar nichts. Meyerhoff erkennt seinen Schlaganfall zwar ziemlich schnell, auch der Krankenwagen lässt nicht lange auf sich warten. Dann aber wird es bedrohlich, er muss in eine Stroke Unit und offensichtlich ist in ganz Wien kein Platz frei. Die Wartezeit wird zur nervlichen Zerreißprobe - “Zeit ist Hirn”, meint: jede Minute zählt. Dank seiner energischen Tochter kommt er schließlich noch rechtzeitig in die Klinik. Meyerhoff hat Glück im Unglück, es war nur ein “Schlagerl”, wie man in Wien verniedlichend sagt. Zwar gehorchen ihm linker Arm und linkes Bein zunächst nicht mehr, es brummt gefährlich im Kopf und eine Menge anderer Empfindungen signalisieren fehlgeleitete neurologische Impulse, ihm schwindelt, wird übel, überall spürt er Tausendfüßler in den Gliedern, aber er hat die Sprache nicht verloren – ein Albtraumgedanke:
“... unter keinen Umständen wollte ich zulassen, dass der Schlaganfall mich sprachlos machte. Einen Teil meines Gleichgewichtssinns konnte er meinetwegen haben, aber meine Gedanken und meine Sprache nicht.”
Bloß nicht einschlafen
Neun Tage wird er im Krankenhaus behandelt, zunächst auf der Intensivstation. Neun Tage lang Untersuchungen, Arztvisiten, Gespräche, Diagnosen, Befunde, Therapien. Dazu die ständige Beobachtung seiner eigenen Symptome und der erlauschten seiner Mitpatienten. Wobei er sich in einem Raum nur mit Vorhängen zwischen den Betten die Ohren zustopfen müsste, um Einzelheiten nicht mitzuhören. Im Roman werden sie zum tragikomischen Lesestoff – ironisch und detailliert ausgemalt, inklusive seiner Furcht vor dem Einschlafen, vor einem weiteren Schlaganfall, vor dem Verlust wichtiger Fähigkeiten:
“Mein Beruf war ganz sicher keiner, den man in Schonhaltung ausüben konnte. Achtsamkeit und Theater waren natürliche Feinde. Mein gesamter Erfolg bestand ja genau darin, mich in physischen Grenzbereichen auszutoben."
Blick in den Abgrund
Also trainiert er Denken mit Nachdenken, vertreibt sich die Nacht mit Erinnerungen – an seine zwei Frauen und drei Kinder, an seine Reisen: mit der Patchwork-Familie nach Mallorca, wohin er niemals fliegen wollte, weil er die Insel samt durchgeknallter Touristen hasst, in den Senegal mit seiner zweiten Frau, nicht ahnend, dass ihn die Hitze dort an den Rand des körperlichen Zusammenbruchs bringt, oder nach Norwegen zum Wandern. Zusammen mit seinem Bruder kraxelt er auf Peer Gynts Spuren, um inmitten vorwärts stürmender Touristen in Abgründe zu blicken. So findet er nicht nur sein Erinnerungsvermögen, sondern auch seine außergewöhnliche Beobachtungsgabe wieder, die in oft urkomischen und bühnenreifen Szenen endet.
Zurück ins Leben
Als er sich kurzfristig mal heimlich aus dem Staub macht, landet er auf einer Wiese mit sich bewegenden Laubhaufen, aus denen ihn Hamster mit schwarzen Knopfaugen beobachten:
“Mein Gehirn musste sich in der Filmrolle geirrt haben. Hinter dem ersten Haufen, der keinen Meter von meinen durchweichten Rutschesocken entfernt war, entdeckte ich weitere Eingänge ... Immer mehr Nager steckten ihre Köpfchen aus den Blättern, plusterten ihre Halskrausen und sahen mich an.”
Aber bei aller komischen Selbstbeobachtung und der Beschreibung grotesker Situationen im Mikrokosmos Krankenhaus wird der ernste und beängstigende Hintergrund nicht verharmlost. Meyerhoff hat Glück gehabt. Wie sehr, das kann er im Speisesaal an den “Koordinationskatastrophen” deutlich schwerer betroffener Patienten beobachten.
Ein nachdenklicher, sehr persönlicher und zugleich unterhaltender Roman, nahezu atemlos, mit hohem Tempo erzählt. Das Schreiben hat ihm nicht nur geholfen, seine zittrige linke Hand auf der Tastatur zu trainieren, sondern auch, den Schock zu verarbeiten, “wenn die Selbstverständlichkeit der Existenz von einem Moment auf den anderen abhandenkommt.”
(Christiane Schwalbe)
Joachim Meyerhoff, *1967 in Homburg/Saar, 14 Jahre lang Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters, seit 2019 Ensemblemitglied der Berliner Schaubühne
Joachim Meyerhoff "Hamster im hinteren Stromgebiet"
Roman, Kiepenheuer & Witsch 2020, 320 Seiten, 24 Euro
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