Christian Berkel
Ada
Ada ist neun, als sie 1954 mit ihrer Mutter aus Argentinien nach Deutschland zurückkehrt. In Berlin wohnen sie zunächst bei einer guten Freundin, die Adas Mutter eine Zeitlang im Leben begleitet hat und Vertraute geworden ist.
Aus dem Nichts
Ada indes fühlt sich verloren. Sie spricht die Sprache nicht, das Berlin der Nachkriegszeit ist grau und hässlich, überall sind noch die Spuren des Krieges sichtbar. Im Rückblick erinnert sie sich bitter an diese Zeit:
“Die Erwachsenen sprachen von der Stunde Null. Tabula Rasa. Nicht nach uns die Sintflut, nein, wir waren die, die nach der Sintflut kamen. Wir wuchsen in Trümmern auf, die man uns übrig gelassen hatte. ... Deutschland war müde. Es roch nach Verwesung und Tod. Schweigend bauten die Menschen dieses Land wieder auf. Als kämen sie aus dem Nichts.”
Adas Mutter Sala sucht Kontakt zu Otto, ihrer grossen Liebe, vermutlich Vater ihrer Tochter, “von dem ich hundert Bilder in mir trug, aber nur ein einziges gesehen hatte.” Die drei ziehen zusammen, werden eine scheinbar heile Familie. Wäre da nicht noch ein anderer Mann, über den die Mutter sich ausschweigt.
Suche nach Identität
Ada ist katholisch getauft und jüdisch, sie ist deutsch und argentinisch, sie ist unsicher, orientierungslos, belauscht ihre Eltern und erfährt Dinge, die sie nicht einordnen kann, sucht nach ihren Wurzeln, nach einer Identität. Aber immer wieder trifft sie auf beharrliches Schweigen.
“Ich hatte keine Freunde, sah die herabfallenden Schultern meiner resignierenden Lehrer, die enttäuschten Augen meines Vaters. Über allem lag, fein säuberlich in Watte gepackt, das dumpfe Rauschen mütterlichen Schweigens. Ich wusste nicht wer ich war, noch wer ich sein wollte.”
Als die Mutter wieder schwanger wird und einen Sohn bekommt, rutscht die Tochter vollends an den Rand, fühlt sich abgelehnt und ungeliebt. Sie hat einen Freund, dann noch einen, wird schwanger. Einzig die Großeltern, die nach dem Mauerbau in der DDR geblieben sind, geben ihr Halt und Hilfe: “Ihr müsst reden. Fragen und reden. ... In eurem Nacken sitzt ihr Schweigen ... Ihr dürft nicht in die Knie gehen.”
Rebellion und Protest
Aber über den Krieg wird nicht geredet, nicht über die Nazis, die Demütungen, die Traumata und auch nicht über die jüdische Vergangenheit der Mutter. Von ihren Qualen in einem französischen Internierungslager erfährt sie über Umwege. Wie viele andere ihrer Generation taumelt die bürgerlich erzogene Ada in die Rebellion gegen die autoritär geprägte Gesellschaft der schweigenden Elterngeneration: "Merkt ihr nicht, dass man neben euch erstickt?"
Sie nimmt wahllos alles mit, was sich ihr bietet - Drogen, Alkohol, Sexualität, Randale. Sie erlebt das legendäre Konzert der “Rolling Stones”, das im Desaster endet, die 1968er Bewegung, Studentenproteste an der Uni, die Demonstration gegen den Schah, den Tod von Benno Ohnesorg.
Bewegende Familiengeschichte
Umfangreich, detailgenau und fesselnd beschreibt Christian Berkel aus der Ich-Perspektive Adas ihre Kindheit und Jugend in den Nachkriegsjahren der Bundesrepublik als Teil der bewegten und bewegenden Geschichte seiner eigenen Familie, die in seinem Debüroman “Der Apfelbaum” beginnt und nach “Ada” noch einen dritten Teil bekommen soll. Er schlägt einen großen Bogen vom Leben in Argentinien über die Rückkehr nach Berlin bis zum Mauerbau und -fall, den Glauben des Großvaters an die DDR, den Umzug der Eltern in den Westen, Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und wachsenden Wohlstand. Er erzählt vom Unverständnis zwischen Eltern und Kindern, von der psychischen Belastung, die sich im Schweigen aufbaut, von der Angst der Älteren, Vergangenes könnte sich wiederholen:
"Die Angst wurde unsere Mitgift. Auf der Suche nach einem Ventil schleppten wir sie mit uns herum. Unsere Dichtungen waren defekt. Was in uns kochte, schoss eines Tages nach allen Seiten aus uns heraus."
(Christiane Schwalbe)
Christian Berkel, *1957 in Westberlin, Schauspieler und Autor, lebt in Berlin
Christian Berkel "Ada"
Roman, Ullstein Buchverlage 2020, 400 Seiten, 24 Euro
eBook 19,99 Euro