Marina Schwabe
Rift
Von New York aus zum Pazifik, auf dieser Rourte bewegen sich Zuzanna und Janko, Schwester und 36 Jahre alter Bruder, und beide wissen, dass ihm ungefähr ein halbes Jahr bleibt, bis seine shwere Krankheit ihm das Leben nehmen wird. Die Ich-Erzählerin ist entschlossen, den Kindheitstraum trotz spärlicher Mittel – 15 Dollar am Tag – wahr zu machen: einen Roadtrip durch Illinois, South Dakota, Wyoming, Montana, Utah bis nach Kalifornien.
Annäherung
„Wonach wird die verbleibende Zeit berechnet, nach dem Zerfall der Zellen, nach dem Wachstum einer Masse in Jankos Körper? Welche Konsistenz hat diese Masse, wurde das berücksichtigt, und wer hat die Ergebnisse zusammengetragen?“
Sie lehnt sich trotz aller Fragen nicht auf, sondern fährt das Auto, sucht akribisch Quartiere: Motels, Mitwohnangebote, passt auf den kranken Bruder auf, sorgt für ihn und sich selbst, packt ein und aus. Jankos Krankheit gibt das Tempo vor und sorgt für einen sehr speziellen Rhythmus, der auch die Sprache, die Beschreibung der Begegnungen und der überwältigenden Landschaften der USA prägt: unsentimental, aber von großer Zuneigung und dem Wissen um das Ende dieser Reise geprägt. Die Distanz zu Beginn der Reise weicht ganz allmählich der behutsamen Annäherung an den Bruder, seine Eigenheiten, alles, was ihn einzigartig und unverwechselbar macht.
Die Autorin vermeidet jede Sentimentalität, und es gelingt ihr, mit ihrer Erzählung den Schrecken des unvermeidlichen Endes der Reise durch die Würdigung jeder einzelnen Erfahrung zu bannen. Als die beiden in Zimmer 12 eines Motels in Wyoming ein im Kopfkissen verstecktes Bündel mit Hundertdollarscheinen finden, entschließen sie sich, die Annehmlichkeiten des Geldes zu genießen.
„Ich finde die Vorstellung beruhigend, in einen Wald hineinzufahren und für eine Zeit darin zu verschwinden oder viel eher: sich darin zu verstecken. Janko stimmt mir zu, er sagt, er möchte abtauchen. Wohin kann man abtauchen in unbekanntem Terrain? Bis zum nächsten Wald sind es noch einige hundert Meilen, ich fahre, bis wir die Grenze zum nächsten Bundesstaat erreichen, und dann im Zickzack, bis die Erde dunkler wird, gehaltvoller.“
Geborgenheit
Sie tauchen ab und tauchen umso mehr ein in die Geschichte des Landes, seine einzigartige Geographie, die Prozesse, die sich in der Natur seit der Entstehung der Erde vollziehen. Ein Trost für die Geschwister, die sich auf ein Ende einstellen müssen, denn in der Erfahrung, dass selbst große Katastrophen das Leben nicht gänzlich auslöschen können, finden sie unerwartete Geborgenheit. Zuzanna beschreibt, wie im Gebiet um den Vulkan St.Helen‘s ein merkwürdiges, graues Naturschutzgebiet entstand, nachdem 1980, Jankos Geburtsjahr, der Vulkanausbruch 50 Menschen das Leben kostete.
„Schon zwei Wochen nach der Eruption beobachteten die Forscherinnen die ersten Insekten, die angeflogen und angespült kamen, die sich breitmachen wollten, Spinnen, die vom Berg runterkamen, und sehr bald auch Grün, Pionierpflanzen, die ihren Stickstoff aus der Luft bekommen und den Boden fruchtbar machen für alle danach, das ist kein Ödland, keine Mondwüste, unter der Asche kriecht es. Die Fläche wird genannt: Steril. Begraben. Leblos. Vulkanaschengrab. Verhärtet. Giftig. Unmöglich. Mondlandschaft. – Nichts davon trifft zu.“
Auf die unsichtbaren, langsamen Prozesse ist Verlass, und die Geologin Zuzanna erfährt ihre Wirkung in Gemeinschaft mit ihrem todkranken Bruder. Während Janko langsam schwächer wird, hält sie sich und auch ihn an die Hoffnung, dass nichts wirklich verloren ist. Nach den Waldbränden heilen die Bäume, und manche Arten benötigen die Brände, damit sich ihre Früchte öffnen und die Samen verstreuen, und auch der Bruder verliert seinen Humor bis zum Ende nicht. Die Schwester übernimmt seine Pflege mit ärztlicher Hilfe bis zum Ende, denn die gemeinsame Reise hat ihrer beider Kraft immer wieder aufgeladen und großes Vertrauen erschaffen. Wie Marina Schwabe dies in ihrem ersten Roman in Worte gefasst hat, ist zärtlich, genau und sehr berührend. „So fühlt es sich an, denke ich. Dass du leicht wirst wie ein Vogel. Dass ich dich in einer Hand werde halten können. Dass dein Herzschlag gegen meine Finger drückt.“
(Lore Kleinert)
Marina Schwabe, *1987 in Berlin, studierte Jura in Berlin und später Literarisches Schreiben in Hildesheim. „Rift“ ist ihr erster Roman, ausgezeichnet mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung.
Marina Schwabe "Rift"
Roman, Steidl Verlag 2025, 156 S., 24,00 Euro
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