Kaśka Bryla
mein vater der gulag die krähe und ich
Nicht nur der Nobelpreisträger 2025 ist ein Meister der seitenlangen Sätze: Kaśka Bryla verwandelt die Reflektionen ihrer Ich-Erzählerin in schwingende Sprachströme, die weit tragen und Türen in die unterschiedlichsten Geschichten und Befindlichkeiten öffnen.
Freundinnen
„…wie ein Eisbär treibe ich auf meinen Gedankenschollen dahin, du warst mein Ein und Alles, du warst, was ich werden wollte, und selbst, wenn du es oftmals nicht verstehen konntest, drehten sich meine Entscheidungen immer um dein Wohlwollen und deinen Stolz, was du erlebt und erlitten hast, wollte ich zumindest nachempfinden können, ich wollte es mir nicht leicht machen mit dem gemütlichen Leben, das du für mich geschaffen hast,…“
So spricht sie mit ihrem vor Jahren verstorbenen Vater, und sie will die Gespräche auf Band, die sie mit ihrem Vater vor seinem Tod führte, veröffentlichen, an diesem Ziel hält sie fest, und ferne Freundinnen ermutigen sie. Der Vater erzählt vom Widerstand gegen die deutschen Besatzer, als er sich schon als 15jähriger Jugendlicher mit seinem zwei Jahre älteren Bruder der polnischen Heimatarmee anschloss. Den sowjetrussischen Gulag überlebte er nur knapp. Es verlangt der Autorin Kraft ab, die unterschiedlichen Vergangenheiten zu versprachlichen: sie als lesbische österreichische Schriftstellerin mit polnischen Wurzeln lässt sich auf die Geschichte ihres Vaters ein und nutzt ihr Alter Ego, um ihm näher zu kommen, nachzufragen, auch die Dinge anzusprechen, wo beide sich nicht einig sind. Sie verleiht dem Vater eine Stimme, etwa, als er ein künstliches Hüftgelenk bekam und sie um ihn kämpfte: „…danach Tage, an denen du nie gänzlich wach wirst und ich dich im Rollstuhl durch die Gartenanlage…schiebe, mich neben deinen Rollstuhl ins Gras setze und rauche und darauf warte, dass du wieder zu sprechen beginnst, aber
jetzt spreche ich doch, jetzt erzähle ich dir alles, jetzt hörst du meine Stimme, ich nicke, komm, klapp deinen Laptop auf, ich klappe den Laptop auf, lass uns noch weiter zurückgehen, die Gefängniszellen waren wie gesagt zwanzig bis dreißig Quadratmeter groß und in einer Zelle saßen zwischen dreißig und vierzig Gefangene…“
Ausnahmezustand
Die Erzählerin wohnt auf einem Wagenplatz nahe Leipzig, kämpft in diesem Sommer 2020 mit einem schweren und langwierigen Covid-Verlauf, der auch den Kontakt mit den anderen dort schwer machte. Eine Autorin im extremen Ausnahmezustand, der es ihr ermöglicht, Ausnahmesituationen anderer literarisch zu erfassen und in den eigenen Erfahrungsstrom einzubetten.
Die Rettung der verletzten jungen Krähe Karl bietet ihrem erzählenden Ich einen Weg aus Fieberträumen und Einsamkeit, und sie erlebt eine ganz besondere Liebesgeschichte. Auch dafür findet Kaśka Bryla eine feinfühlige, phantasiegespeiste Sprache, und der kleine Krähenvogel lohnt ihr die Pflege mit geradezu artistischen Einlagen, die ihrem Roman einen erstaunten Witz verleihen und wohl nur geschrieben werden konnten, weil sie selbst eine jungen Krähe gesundgepflegt und wieder in die Freiheit entlassen hat.
„…am liebsten spielt er Suchspiele, wird davon ganz hibbelig, krächzt heiser und> hüpft herum, fährt mit dem Schnabel in das ausgebrochene Seitenfenster des VW-Golfs, hebt das Modellauto hoch und donnert es im nächsten Augenblick auf die Gartentischplatte, wiederholt das Prozedere mehrmals leidenschaftlich, während ich mit dem Smartphone draufhalte und ihn anfeuere, meinen Superstar, meinen James Dean der Vögel, wenn ich ein Vöglein wär…“
Wilde Tiere
Sie verwebt ihre Naturbeobachtungen und Reflektionen über mögliche Formen von Widersetzlichkeit bei den Menschen und den Tieren mit Genauigkeit und Mitgefühl, ohne in falsche Gleichsetzungen zu verfallen. Ein aufregendes Leseerlebnis mit spannungsreicher, durchlässiger Offenheit für die „große Zufallswolke Wirklichkeit“, wie Alexander Kluge es mal formulierte.
„…wir sind wilde Tiere, sage ich zu Karl, wir sind wilde Tiere, wir sind dreckig und krank und schwimmen in unserem eigenen Aquarium, so verweilen wir einige Zeit, weil Zeit an Bedeutung verloren hat, und irgendwann bin ich hungrig und irgendwann Karl auch und wir essen gemeinsam von einem Teller und später scheint die Sonne.“
(Lore Kleinert)
Kaśka Bryla, *1978 in Wien, zwischen Wien und Warschau aufgewachsen. Studium der Volkswirtschaft in Wien, Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig,
Kaśka Bryla „mein vater der gulag die krähe und ich“
Roman, Residenz Verlag 2025, 256 Seiten, 26 Euro
