Christine Wunnicke
Wachs
Shortlist Deutscher Buchpreis 2025
„Sie trug ein schlichtes grauwollenes Kleid und darüber eine dunkle Hemdschürze. Um ihren Hals lag ein altmodischer weißer Kragen ... war das ein flüchtiges Nönnchen? Hatte sie den Schleier vom Kopf gerissen, als sie dem Kloster entsprang, und nur diese Haube aufbehalten? Trugen sie solche unter den Schleiern?”
Suche nach Leichen
Der sich das höchst verunsichert fragt, ist ein Kadett in der Kaserne der Schwarzen Musketiere vor den Toren von Paris, der im Keller auf der Oboe übt. Das junge Mädchen im mausgrauen Umhang heißt Marie Biheron, ist Tochter eines Apothekers, und fest entschlossen, ja besessen davon, der „beste Anatom von Paris” zu werden. Aber wer den menschlichen Körper innen und außen studieren will, braucht Leichen. Und die hofft sie in der Kaserne zu finden – erfolglos. Nach Hause zurückgekehrt, wird sie von ihrer Mutter lernen, woher man sie bekommt – und wird sie sezieren, studieren und bis ins Detail erforschen. Eine ungewöhnliche Aufgabe für eine junge Frau, erst recht in Zeiten des beginnenden Umbruchs und der sich ankündigenden Revolution.
„Drei Tage nach ihrem vierzehnten Geburtstag bekam Marie Biheron ihre erste Leiche. Es war ein kleines Mädchen, etwa drei Jahre alt, verhungert. Sie kam nachts, in ein schmutziges Laken gewickelt, in einem Karren ohne Licht. Marie und ihre Mutter legten sie auf den Arbeitstisch in der Apotheke, stellten eine Kerze dazu und beteten für ihre Seele.”
Warten auf den Tod
Ein Kapitel später begegnen wird Marie Marguerite Biheron (1719-1795) mit nunmehr 73 Jahren, bettlägerig, in einer ebenso obskuren wie kuriosen Umgebung: Sie liegt im Bett in einem kalten verschmutzten und baufälligen Häuschen im Hinterhof eines Mietshauses, eine klapprige alte Frau, die eigentlich seit vier Jahren sterben möchte. Betreut wird sie von einem jungen Mann, der ihr täglich die Zeitung bringt, in der sie von den unter der Guillotine rollenden Köpfe liest und sich über die Fragilität der Gehirne Gedanken macht. Christine Wunnicke erzählt nicht chronologisch und springt von der jugendlichen Marie gleich zur mürrischen Alten, dann zum jungen Mann namens Edmé, der für sie sorgt und sie - glatzköpfig, mit einer Konkarde geschmückt - im Leiterwagen durchs revolutionäre Paris karrt - sie bleibt auch im Alter neugierig. Seine Lebensgeschichte lernen wir ein Kapitel später kennen:
„Edmé Cantegrit war nicht das Kind seiner Mutter, dennoch musste er sie Mutter nennen, was gewissermaßen eine Strafe war. ... In der Nachbarschaft hieß es, (sie) sei eine vom fahrenden Volk gewesen oder eine Hure oder beides."
Anatomie der Pflanzen
Christine Wunnicke stellt der ehrgeizigen und furchtlosen Marie, die gern mit dem kaffeesüchtigen Philosophen Diderot diskutiert, eine weitere historische Figur an die Seite, eine Botanikerin, deren Leidenschaft die Anatomie der Pflanzen ist. In ausführlichen Briefen unterhält sie sich mit dem Naturforscher Carl von Linné – verbrennt sie aber sofort. Madeleine Françoise Basseporte (1701-1780) unterrichtet junge Mädchen in der Pflanzenmalerei, auch Marie, die allerdings wenig begabt ist, sich aber in die deutlich ältere Lehrerin verliebt – ein weiteres Tabu, das die beiden einfach ignorieren. Und weil man mit der (unerwünschten) Sezierung von Leichen schlecht Geld verdienen kann, beschließt Marie, Präparate aus Wachs herzustellen.
„So entschied sie, sich auf die künstliche Anatomie zu werfen, nach italienischer Art. Dort machte man Leichen aus Wachs nach und zeigte sie vor. ...Wachs war teuer, und sie brauchte davon viel. Sie brauchte auch Wachs, das nicht schmolz und nicht brannte und gleichzeitig weich und formbar war. ...Marie fiel in einen Buchladen ein und studierte dort chemische , technische, ökonomische ,bienenkundliche Werke, bis sie der Besitzer hinauswarf."
Zwei Frauen, die es wagen, in einer Liebesbeziehung zu leben, sich bildungshungrig und mutig gegen herkömmliche Konventionen wehren und damit eine neue Zeit verkörpern, in der Forschung und Wissen bedeutsam werden. Beide haben - ohne irgendeinen Unterricht - ihre Berufung gefunden, die zur lebenslangen Leidenschaft wird, während sich die Revolution unaufhaltbar nähert. Ein schmaler, manchmal durchaus sperriger historischer Roman, der präzise, detailgenau und oft sehr vergnüglich von zwei außergewöhnlichen Frauen in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs erzählt.
„Ich hatte nie einen Lehrer ... Frauen, vermute ich, werden deshalb in allem so gut, weil man es ihnen so schwer macht."
(Christiane Schwalbe)
Christine Wunnicke, geboren 1966, lebt in München. Sie schreibt Hörspiele, biografische Literatur und Romane. Für „Die Dame mit der bemalten Hand" bekam sie den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis und stand damit auf der Shortlist Deutscher Buchpreis 2020
Christine Wunnicke „Wachs"
Roman, 192 Seiten, Verlag Berenberg, 23 Euro
eBook 18,99 Euro